Donnerstag, 26. Februar 2009

Der richtige Maßstab

10.10.82
Jakobusbrief 2, 1-13

Der Schreiber des Jakobus-Briefes stellt das praktische Glaubensleben in die Mitte seiner Aussage an dieser Stelle. Er tut das nicht wie der Apostel Paulus, indem er seinen Finger auf eine wunde Stelle legt und erklärt, was ihr da tut, das ist falsch. Er konstruiert einen Fall: "...Wenn da nämlich in eure Gemeindeversammlung ein Mann mit goldenen Ringen an seinen Fingern und in prächtigem Gewand eintritt und neben ihm ein Armer in schmutzigem Kleid ...“ Der Verfasser des Briefes überläßt es dem Leser festzustellen, ob es einen solchen oder vergleichbaren Fall in seiner Gemeindeversammlung gibt. Es kann für uns deshalb auch gleichgültig sein, dem dieser Brief einmal gegolten hat. Wichtig ist, ob dieser Fall in der beschriebenen oder in ähnlicher Weise bei uns geschehen kann oder tatsächlich geschieht. Ja, es ist vielleicht nicht einmal nötig, daß das hier in der Kirche so ist - wir müßten über diesen Brief auch nachdenken, wenn wir nur zu Hause oder im Beruf ein solches Geschehen nicht ausschließen können.
Der reiche Mann mit den Ringen an den Fingern ist ein Symbol für den Reichtum und die Macht dieser Welt - ob er gut oder schlecht angezogen ist, ob er selbstbewußt, eitel oder schüchtern und gleichgültig gegen Äußerlichkeiten zu uns kommt, das ist hier nicht wichtig. Es kommt darauf an, daß er unter uns hier auf dieser Welt hohes Ansehen genießt, weil er Macht hat, außergewöhnliche Leistungen vollbracht hat, eine gesellschaftliche Position einnimmt.
Eigentlich ist es doch selbstverständlich, daß man einem solchen Menschen aufmerksam begegnet, ihn freundlich begrüßt und versucht, ihm den Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich zu machen. Wir wären weltfremde Schwärmer, ja es wäre töricht, wenn wir anders verfahren wollten. Ich glaube, daß unsere Schriftstelle ein solches Verhalten nicht bemängeln will.
Sie wendet sich vielmehr dagegen, daß wir den armen, schmutzigen Menschen so ganz anders behandeln. Auch er, so wie er im Brief beschrieben ist, gilt als ein Symbol für den von uns abhängigen, außerhalb unserer gesellschaftlichen Gruppierungen lebenden Menschen, für einen vielleicht unangepaßten Menschen, für jemanden, der keine Macht hat, der kein Ansehen genießt, sondern Verachtung erfährt unter uns Menschen, für jemanden, der nach unserer Auffassung nichts leistet und nirgendwo in unserer Gesellschaft eine Position einnimmt. Er kann dann sauber und adrett gekleidet sein, selbstbewußt oder vielleicht sogar unverschämt auftreten, demütig und bescheiden sein - er bleibt der Arme in unserem konstruierten Beispiel.
Kennen Sie solche Menschen? Haben wir auch einmal Gäste von beiderlei Art?
Jakobus wendet sich dagegen, daß wir uns dem reichen Gast zuwenden, ihm alle unsere Aufmerksamkeit schenken - aber den armen fast vergessen, jedenfalls nachlässig, vielleicht sogar demütigend behandeln - er ist ja nichts.
Vielleicht gibt es einige unter uns, die jetzt spontan meinen, das kommt bei mir nicht vor.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man gerade dann besonders nachdenken sollte. Wohl hat man den Grundsatz anerkannt, daß man auch in dem armen, einflußlosen Menschen seinen Nächsten, seinen Bruder, seine Schwester in Christo ehren soll. Es ist uns aber oft nicht bewußt, wie verletzend wir gerade den von uns abhängigen Menschen gegenüber treten. Wir kommen einfach nicht auf den Gedanken daß wir verletzen, demütigen - ja, oft auch nur übersehen.
Jakobus meint, wenn wir so verfahren, dann messen wir mit zweierlei Maß und wir maßen uns an, andere Menschen zu verurteilen.
Ich denke, daß Geld, Macht oder Leistung durchaus akzeptable Maßstäbe sein können. Wenn wir dann mit solchen Maßen messen, können wir einen armen Menschen ohne Macht und Leistungsfähigkeit durchaus übersehen.
Der springende Punkt ist einfach der, daß für einen Christen ein solcher Maßstab - wenn er überhaupt für ihn gilt - nicht der entscheidende und der einzige sein darf.
Jakobus beginnt ja das Kapitel mit dem Hinweis auf den Glauben der Christen und bittet, daß sie diesen Glauben nicht durch die Rücksicht auf das Ansehen von einzelnen Personen bestimmen lassen sollen. Ich sagte es schon: Es geht um das Glaubensleben der Christen.
Der Kern dieses Glaubens ist beschlossen in dem Anerkenntnis Gottes als des Herrn und Schöpfers dieser Welt mit seiner Liebe zu den Menschen, die er in seinem Sohn Jesus Christus offenbart hat und in der Erkenntnis, daß seine Liebe zu uns in uns lebendig werden muß in der Liebe zu unseren Mitmenschen. Jakobus spricht von dem vornehmsten Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (3. Hos. 19,18 und Matth. 2 22,39) .
Es ist für ihn ein königliches Gebot. Wenn dieses Gesetz nun für uns Christen gilt, dann muß es Vorrang vor allen anderen haben - und wir dürfen uns fragen, wie es dann mit den Maßstäben aussieht, die wir in unserem alltäglichen Leben anwenden. Passen sie zu der Erfüllung dieses Gesetzes, machen sie es gar unerfüllbar oder erschweren sie es, dieses Gesetz anzuwenden?
Das Königliche an diesem Gesetz sehe ich in zweierlei. Einmal ist dies der König unter den Gesetzen, weil sich alle anderen aus ihm ableiten lassen und dann niemals mit Gottes Schöpfung in Konflikt geraten können. Andererseits aber ist der Gesetzgeber ein König, der auf alles andere verzichten kann und nur dies eine, allerdings sehr anspruchsvolle Gesetz erläßt.
Anspruchsvoll ist dieses Gesetz nicht, weil es uns etwa belasten würde. Ohne die Liebe der Menschen untereinander wäre die Welt längst zerstört. Anspruchsvoll ist dies Gesetz deshalb, weil wir schwach sind und andere Mächte unsere Bereitschaft und Fähigkeit, Liebe zu leben und allen Menschen weiterzugeben, einschränken, unterminieren, auflösen. Es fordert uns und unsere Kraft heraus und es erhebt einen hohen Anspruch an uns - dies königliche Gesetz.
Jakobus faßt dann zusammen, was er uns sagen will, indem er erklärt, daß das Gesetz eine Einheit ist, die man erfüllt oder verletzt, bei der es kein mehr oder weniger gibt. Wem es gelingt, seinen Nächsten zu lieben - der wird alle anderen Gesetze ebenfalls erfüllen. Wem das nicht gelingt, der wird immer wieder von neuem - wie es in der Sprache des Gerichts heißt -straffällig.
Und so klingt dann diese Briefstelle aus mit der Zusage, daß Erbarmen über das Gericht triumphiert. Das Strafgericht gibt es auch im Neuen Testament. Auch Christus hat immer wieder erklärt, daß Gott straft. Aber über diesem Gericht, über diesem Strafen steht Gottes Gnade, Gottes Erbarmen über uns alle. -
Dies alles sollen wir bedenken, wenn wir täglich mit unseren Mitmenschen umgehen. Wir werden das auf recht unterschiedliche Weise tun und immer wieder auch andere Menschen verletzen. Das liegt in der Unvollkommenheit unserer Natur und der Welt, in der wir leben.
Wenn uns aber diese Schriftstelle heute deutlich vor Augen geführt hat, wo der entscheidende Maßstab unseres Lebens zu finden ist und wie er aussieht, dann vermögen wir diese Abweichungen festzustellen, dann können wir unser eigenes Leben und unser Verhalten immer wieder danach ausrichten - und all die anderen Maßstäbe bleiben auswechselbare Hilfsmaßstäbe, die ihre eigentliche Maß- und Werteskala erst durch den zentralen Wert der christlichen Nächstenliebe erhalten. -
Möge uns Gott dazu verhelfen. Amen.

Lieber, himmlischer Vater,
wir danken dir für die Liebe, die du uns zeigst, und bitten dich, gib uns die Kraft, sie weiterzugeben, wo immer wir einander begegnen. Amen.

Fremde unter uns - Leben und Tod

1. Sonntag nach Trinitatis - 28.5.1989
Predigtext: Matthäus 9,35-38 u. 10, 1-7

Dem Bericht des Evangelisten - etwa 70 Jahre nach Christi Geburt - stelle ich zwei Ereignisse aus der Stadt Leverkusen im Jahre 1989 gegenüber :
- An den Tagen um Pfingsten werden Aussiedler, die in den Wohncontainer auf dem Parkplatz vor dem Freibad Auermühle leben, von verschiedenen Gruppen bedroht auf eine Weise, daß Polizei eingreifen muß, um Leib und Leben der Aussiedler zu schützen.
- Auf der Tagung der Kreissynode vor vierzehn Tagen berichtet Pfarrer Szyska, die Aussiedlerfamilien, die in den letzten Monaten in die Häuser an der Gustav-Heinemann-Straße hier in Manfort eingewiesen wurden, müßten kurzfristig ihre Wohnungen wieder verlassen, damit sogenannte "Schwarze" einziehen könnten.

Die Predigt heute spricht weniger über Jesu Worte. Sie zeigt vielmehr in Bildern, wie Menschen heute versuchen, auf ihre Weise Jesu Auftrag zu erfüllen,
- mit offenen Herzen das Leben der Menschen um uns zu begleiten,
- um Kraft für die Hilfe zu bitten,
- vor Gott und den Menschen einzutreten für die Botschaft von der Liebe Gottes zu uns Menschen,
- etwas vom Reich Gottes unter uns lebendige Wirklichkeit werden zu lassen.

Diese Predigt wird an uns vorbeigehen, wenn wir sie nur anhören - wir müssen schon in sie hineinhören, wenn wir hinter den Bildern, die uns beschrieben werden, Jesu Auftrag auch an uns erkennen sollen. Wir müssen auch hinter den Menschen, von denen wir hören, uns selbst erkennen - uns, die wir anders leben, fühlen und handeln.

In ihrem "Rundbrief", der einmal im Jahr - in der Vorweihnachtszeit - alle Verwandten und Bekannten ihrer Familie erreicht, schreibt meine Schwester im Jahre 1987, es habe sich soviel Belastendes und Bedrückendes ergeben, daß Albrecht, ihr Mann, am liebsten überhaupt nicht schreiben würde. Sie fährt dann fort: "...was wären das für Freunde, bei denen man sich nur melden darf, wenn man etwas Vergnügliches zu berichten weiß?" Und es finden sich neben dem Betrüblichen noch manche vergnügliche Mitteilungen. Danach aber berichtet sie vom Heiligabend 1986:

"... Mitten in die schönste Heilig-Abend-Hektik: In einer halben Stunde beginnt die Chorprobe, die Kartoffeln für den Salat sind noch nicht fertig geschält - wo bleibt mein Mann? Was muß er jetzt so lange telefonieren, er weiß doch, daß ich ihn jetzt brauche! – platzt die Nachricht: K.s, eine befreundete Kurdenfamilie aus dem Libanon und Asylbewerber, haben angerufen. Eine deutsche Hausmitbewohnerin hat von draußen durch die Fensterscheibe ins Wohnzimmer geschossen. Sie und ihr Freund, beide wohl angetrunken, haben K.s bedroht. Die sind zu einer türkischen Nachbarfamilie geflüchtet. Jetzt stehen die beiden Deutschen mit Waffen dort vor Tür und Fenster und stoßen Drohungen aus. Frau K. weint und hat Angst - sie ist von den ständigen Bombenangriffen in Beirut, bei denen sie ihr jüngstes Kind verloren hat, ohnehin sehr mitgenommen.
Mein Mann telefoniert mit der Polizei. Ich bin entsetzt und froh zugleich; froh, daß K.s uns kennen und daß sie sich getraut haben uns anzurufen, froh, daß mein Mann weiß, was man tun kann und daß er es tut. Der Kartoffelsalat wird unwichtig, irgendwie wird er doch noch fertig. Mein Mann soll zum Haus der Türken kommen um die Polizei zu leiten, weil zwar das Haus kennt, aber die Hausnummer nicht weiß. Ich eile zur Probe, bin aufgeregt. Es wurde geschossen und mein Mann geht dahin.
Als der Gottesdienst beginnt, sind die Kinder da, voller Spannung: „Ist der Papa da?" - "Nein!" - Wir sind unruhig, halten den Platz in der überfüllten Kirche mit zwiespältigen Gefühlen frei. Wird er kommen? Das Orgelvorspiel hat begonnen, da kommt er. Schnell flüstert er uns. zu: "Die Frau ist vorläufig festgenommen worden, gegen den Mann hatte man keine Handhabe. K.s können in ihre Wohnung zurück.“ Die Kinder sind beruhigt. Ich fange an, mir Gedanken zu machen über diese Frau, die nun in einer Zelle sitzt am Heiligen Abend. "Ich steh an deiner Krippen hier ..." Die Weihnachtslieder sind trotzdem schön, aber was heißt da "trotzdem"? ... "Ich lag in tiefer Todesnacht, du warest meine Sonne ..." Ob K.s das überhaupt empfinden, daß es gerade am Heiligen Abend passiert ist ? Sie sind Moslems. -
Für die Frau, die geschossen hat, hat der Tag sicher eine Rolle gespielt: „Die K.s sind Ausländer, gehören gar nicht hierher. Die können miteinander in der warmen Stube sitzen und fröhlich sein – K.s haben sechs Kinder und gehen sehr nett miteinander um - und wir, wir gehören nicht dazu, hier nicht, woanders nicht, uns bleibt nur der Alkohol, wenn wir mal die Sorgen vergessen wollen und das am Heiligen Abend ..."

Nach dem Gottesdienst ist die Familie bei den Schwiegereltern meiner Schwester. Der Schwiegervater ist seit Jahren bettlägerig und ein schwerer Pflegefall. Meine Schwester fährt fort:
"Es werden friedliche Stunden. Ob die Kinder - so wie ich - das vom Kerzenschein erhellte Zimmer, wo der Opa liegt, vergleichen mit einem Wohnzimmer mit durchschossener Scheibe, wo Frau K. weint, weil sie Angst hat? Es gibt keinen Streit, es gibt keine Nörgelei - wir sind froh, daß wir sicher beieinander sein können in unserem eigenen Land, auch wenn der Opa schon so lange krank ist, auch wenn die Oma morgens oft nicht weiß, wo sie die Kraft für den Tag hernehmen soll.
Nach dem Abendessen wollen wir nach Hause zur eigenen Bescherung, danach zur Christmette. Auf dem Rückweg setzt sich mein Mann ab: "Ich will nur noch sehen, wie es bei K.s aussieht." Wir anderen gehen heim, warten in der Küche, daß er kommt, damit wir zur Bescherung ins Wohnzimmer gehen können. Um 23:00 Uhr beginnt die Christmette. Es ist 22:00 Uhr - keine Zeit mehr für Bescherung und Christmette, wir halten einen kurzen Rat ab. Wir wollen zur Christmette. Wir hatten uns so darauf gefreut. ... Als mein Mann endlich kommt, ist es 23:45 Uhr vorbei, er ist überrascht, daß wir noch zur Christmette wollen, aber sehr einverstanden. Bei K.s ist alles in Ordnung. Vergnügt ziehen wir los.
Die Kirche ist dunkel, nur von Kerzen erhellt. Viele Jugendliche sind da, auch manche, die wir kennen. Es wird viel gesungen, Jugendliche sprechen Gebete, Vikar R. predigt. Er vergleicht unsere idyllischen Weihnachtsstuben mit der Situation von Maria und Joseph in Bethlehem. Unser älterer Sohn (14 J.) stupst mich an und tauscht verständnisinnige Blicke. Der Vikar spricht davon, daß die Lage von Joseph und Maria wohl eher mit der von Asylanten zu vergleichen sei. Unser jüngerer Sohn (12 J.) flüstert mir zu: "Wie K.s“. Der Schluß der Predigt bringt es auf den Punkt:
Die Weihnachtsgeschichte will nicht Zuckerguß über eine unheile Welt gießen, sie will nicht Frieden vortäuschen wo keiner ist; das aber tun wir, wenn wir die eine Seite, die Friedensbotschaft der Engel, für uns übernehmen - die andere Seite, das Fremdsein, die Ungeborgenheit und Hilflosigkeit anderen überlassen oder sogar zuschieben .
Die Weihnachtsbotschaft heißt: In unsere Angst, Hilflosigkeit, Verlassenheit hinein kommt Gott, um sie mit uns zu teilen, damit wir nicht zurückschlagen müssen, wenn wir geschlagen werden, sondern Frieden schließen können.
Wir alle vier haben das Gefühl, heute wäre die Predigt genau für uns gewesen.
Die Bescherung ist dann irgendwann zwischen 0:l0 und 1:00 sehr friedlich, sehr schön, nicht mehr wichtig - genau richtig."
- Soweit der Bericht meiner Schwester vom Heiligen Abend 1986 aus E.
In unserem Predigttext heißt es: Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. In dem Bericht meiner Schwester wird diese Lage an den beiden fremden Familien deutlich: Da ist die libanesische Familie, die in Deutschland das rettende Asyl sucht - und da ist die Frau aus Deutschland, die am Heiligen Abend den fremden Nachbarn in das Zimmer schießt, da ist der Mann, der mit dieser Frau die Fremden bedroht. Fast scheint es, als sei die Familie meiner Schwester die ruhige, die hilfreiche - vielleicht die rettende Kraft. Wer aber genau hingehört hat, der konnte auch da die Angst und Not in diesen Stunden spüren. Wenn es eine Kraftquelle gibt in diesem Bericht, dann ist es Jesu Botschaft, die ausstrahlt durch alle Ängstlichkeit und Sorge, durch innere und äußere Not hindurch.
Als ich den Bericht zum ersten Mal las, fragte ich mich, ob ich selbst wohl auch so konsequent gehandelt hätte wie mein Schwager. Ich weiß es nicht - ich bin mir dessen durchaus nicht sicher. Es kommt, so meine ich, auch nicht darauf an, ob wir so handeln wie andere handeln. Wichtig ist, daß wir auf Jesu Ruf hören, daß wir die Welt um uns her mit offenen Augen und aufnahmebereitem Herzen in uns aufnehmen und dann mit unseren Kräften, auf unsere Weise dort handeln, wo wir handeln können .

Die Geschichte meiner Schwester hat eine Fortsetzung. In ihrem Weihnachtsbrief 1988 berichtet sie von ihrer Kur, mit der ihr Herz gestärkt werden sollte, von dem Aufbruch von meinem Schwager, und den beiden Söhnen, die während die Mutter zur Kur ist mit dem Autoreisezug nach Salzburg fahren, um von dort den Urlaubsort in Kärnten mit dem Auto zu erreichen. Auf der Fahrt geraten sie auf die falsche Fahrbahn, ein Lkw kommt ihnen entgegen - Frontalzusammenstoß. Alle drei sind sofort tot. Meine Schwester schreibt: "Einer meiner dringendsten Wünsche, kurz nachdem ich die Nachricht von dem Unfall erhalten hatte, war, daß ich trotzdem lebendig bleibe, d.h. Schmerz, Trauer und Freude bei mir und anderen weiterhin wahrnehmen und erleben kann, ihnen weder ausweiche noch sie verdränge. In der ersten Zeit nach der Beerdigung habe ich es manchmal so erlebt, als sei etwas von der Neugier unseres älteren Sohnes, etwas von der Bereitschaft meines Mannes zuzuhören auf mich übergegangen. Diese beglückende Erfahrung ist einstweilen durch die ganz ernüchternde Erkenntnis abgelöst worden, daß ich im großen und ganzen schon noch die alte bin - oft zu schnell im Reden und zu schwerfällig im Spüren, was für den anderen wichtig ist. Aber ich merke es immerhin selbst; Mein Mann braucht mir nicht heimlich auf den Fuß zu treten. Manchmal empfinde ich schon so, als sei eine Folie zwischen mir und allem anderen, aber häufiger sind eigentlich die Zeiten, in denen ich deutlich spüre: ich lebe und gehöre dazu."
Das schrieb meine Schwester im Weihnachtsbrief des vergangenen Jahres (1988).
Ich habe an der Beerdigung teilgenommen. Es kamen viele Menschen. Besonders berührt hat mich die Gruppe der Ausländer, darunter sicher viele Asylbewerber, die sich zurückhielten und sich mit ihrer fremdländischen Tracht, mit ihrer dunklen Hautfarbe deutlich von den anderen unterschieden. Dann aber traten sie als letzte an meine Schwester heran und umarmten sie - diese fremdartigen und rätselhaften Menschen taten das auf eine eindringliche, innige und zugleich scheue, ganz zarte Art. Auch das war ein Gegensatz zu den anderen, die hier versammelt waren - nicht wenige erschüttert, verzweifelt, verkrampft, stumm - - -
Ich sehe seither die fremdartigen Gestalten auch hier in Leverkusen mit anderen Augen als zuvor. In der Danksagung schreibt meine Schwester: "... Viele haben uns gesagt und geschrieben, daß sie keine Worte des Trostes finden können. Vielleicht nehmen wir alle aus diesen Tagen die Erfahrung in unseres weiteres Leben mit, daß auch eingestandene Hilflosigkeit hilfreich sein kann, weil sie uns miteinander verbindet und auf den verweist, der uns Trost und Hilfe geben kann . "

Dienstag, 17. Februar 2009

Fasten einmal anders: Staat und Gesellschaft

Estomihi (2002-02-10)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wir hören eine Auswahl aus dem Predigttext für den heutigen Sonntag Estomihi aus dem Buch des Propheten Jesaja im 58. Kapitel, und zwar
die Verse 3 bis 9:
(3) "Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir
unseren Leib, und du willst's nicht wissen?“ - Siehe, an dem
Tage, an dem ihr fastet, geht ihr doch euern Geschäften nach
und bedrückt alle eure Arbeiter.
(4) Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit
gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie Ihr
jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
(5) Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag,
an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen
läßt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr
das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat?
(6) Das aber ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe:
Laß los, die du mit Unrecht gebunden hast, laß ledig, auf
die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
(7) Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach
sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide
ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
(8) Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und
deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
(9) Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich."

Lieber himmlischer Vater,
laß das Wort deines Propheten zu einem Licht werden, das uns den Weg durch diese - oftmals so dunkle und uns trostlos erscheinende - Welt zeigt, den Weg zu dir. Amen.

Nach vierzig Jahren babylonischer Gefangenschaft kehren die Juden in ihre zerstörte Heimat zurück. "Nichts ist mehr so, wie es mal war." Nebukadnezar, der Herrscher Babylons, hatte die Stadt und den Tempel zerstört. Die Jahre hatten das Zerstörungswerk noch fortgesetzt.
Nun suchen die Juden Hilfe und Zuspruch bei ihrem Gott:
„Warum fasten wir - und du siehst es nicht? Warum kasteien wir unseren Leib - und du willst nichts davon wissen?"
Gott wendet die Frage um - ist das denn Gottesdienst, sucht ihr ernsthaft das Gespräch mit mir, wenn ihr fastet? Ihr verhaltet euch doch so wie sonst auch. Ihr selbst steht euch im Wege.
Ja, es ist tatsächlich so - Gott ist kein Service-Unternehmen, das für unser Wohlsein sorgen muß und dafür mit göttlicher Münze - etwa dem Fasten - bezahlt wird. Ihr müßt eure Einstellung ändern. Sucht nicht, mir zu gefallen, sondern den Menschen um euch her zu helfen - wirksam und anhaltend auch dann, wenn es euch schwer fällt.
Macht das Unrecht gut, wenn ihr Unrechtes getan habt. Ich denke zum Beispiel an die damals weit verbreitete Schuldhaft, wonach ein Schuldner ins Gefängnis kommt, wenn er seine Schuld nicht zahlt. Der Jude soll ihn vielmehr frei lassen, für Arbeit sorgen, damit er seine Schuld abtragen kann. "Das ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe“, sagt Gott (Jes. 58,6).
Doch dann ist ständig die Rede vom Handeln an und für den Mitmenschen:
Brich dem Hungrigen dein Brot, gib dem Obdachlosen eine Unterkunft, einem Zerlumpten oder gar Nackten gib ordentliche Kleider.
Wenn das geschieht, wenn du das tust, wenn deine Hinwendung zu deinen Mitmenschen aus der Liebe zu deinem Gott kommt, dann wird dein Licht die Welt erhellen. Du denkst dann nicht an dich - und danach an Gott, wie er dir helfen kann, sondern an deinen Mitmenschen und wie Gott ihm helfen kann. Das ist ein grundlegender Unterschied! -
Im September vorigen Jahres sagte ich an dieser Stelle zum Abschluß der Predigtreihe zur Überwindung der Gewalt:
"Gottes Schöpfung ist gut - 1. Mose 1,31 -, dann ist der Mensch auch gut."
Nach meiner Überzeugung können wir nur auf diesem Wege einen Zugang zu Jesu Aufforderung finden: "Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen" (Mt. 5,44)
Gott hat uns seine Schöpfung anvertraut, der Mensch soll sich die Erde untertan machen - 1. Mose 1,28 -. Aber er soll nicht als Herrscher über ihr stehen, sondern sie lieben, für sie sorgen, mit ihr leiden. Wenn das alles so ist, wie ich es eben beschrieben habe, dann kann ein Christ keinen Krieg erklären.
Wir wissen allerdings, daß wir Menschen unvollkommene Ebenbilder Gottes sind, fehlerhaft, schwach und manches Mal auch böse.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland haben gewiß auch an die Ebenbildlichkeit Gottes gedacht als sie den ersten Artikel des Grundgesetzes - GG - formulierten:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Als Vertreter eines Staates mit unvollkommenen Menschen wußten sie aber auch, daß die Würde des Einzelnen und die dieses Staates nur bewahrt werden kann, wenn sie geschützt wird. Er hat Gesetze erlassen und dem Staat in sehr begrenztem Umfang das Recht, das zu kontrollierende Recht der Gewaltanwendung eingeräumt(sogenanntes "Gewaltmonopol des Staates", zum Beispiel im Falle der Polizei und der Bundeswehr). In dieser unvollkommenen Welt ist das wohl notwendig - christlich ist das nicht.
In diesen Wochen hat der Präsident der Vereinigten Staaten George Walker Bush der "Achse des Bösen" den Krieg erklärt. In seiner Rede zur Lage der Nation nannte er den Irak, den Iran und Nordkorea als die Staaten, die diese Achse bildeten.
Es gibt gewiß Gründe dafür, daß er das tat. Viele Menschen halten das für unvernünftig. Auch sie haben ihre Gründe.
Meine Sorge bei seinem Vorgehen ist, daß er glaubt, als Christ so handeln zu müssen. Er kann nicht erkennen, daß seine Handlungsweise nicht ein Zeichen der Stärke und Überlegenheit, sondern der Schwäche und Ichbezogenheit ist. Er weiß, daß er den Krieg bezahlen kann. Die Nation steht noch hinter ihm. Aber wird er auch bezahlen können, was danach kommt - in den USA, vor allem in den zerstörten Ländern und in den Menschen, die zu Kriegsopfern werden? Ich habe da meine Zweifel. -
Was das mit Fasten zu tun hat? Es kann an meiner persönlich begrenzten Einsichtsfähigkeit liegen. Aber es gibt verantwortliche Vertreter der christlichen Kirchen und auch Politiker, die den Eindruck haben, daß der Präsident der USA und die Berater, deren Rat er folgt, im Bewußtsein der Stärke oder vielleicht sogar der Vergeltung handeln. Das widerspricht dem, was Gott zu unserem Handeln, zu unserem Fasten sagt. Am aktuellen Beispiel staatlichen Handelns kann man auch zeigen, was im Verhältnis unter Menschen gilt. Ein anderes Beispiel sehen wir an unserer Kirchenwand - außen, neben der Treppe finden Sie drei Plaketten. Hier meine ich zwei davon. Auf der einen steht:
"Erlaßjahr 2000"
und auf der anderen
"geht weiter."

Was ist damit gemeint? Nicht nur von den christlichen Kirchen ist die Initiative ausgegangen, den Staaten der sogenannten Dritten Welt einen Teil ihrer Schulden gegenüber den entwickelten Industriestaaten zu erlassen. Die christlichen Kirchen beziehen sich auf Bestimmungen des 2. Buches Mose (2. Mose 23, 10f). Mit der Erklärung des Jahres 2000 zum Erlassjahr und seiner Fortsetzung sind Staaten und auch Wirtschaftsunternehmen bereit und in der Lage durchaus im Sinne Gottes zu handeln und aktiv "fasten" können, ob sie das so nennen oder nicht Ein Ausleger nennt dieses Fasten "diakonisches Fasten" – (Gottfried Voigt "Homiletische Auslegung der Predigttexte. Reihe III: Geliebte Welt". Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht. NEUE FOLGE. 2.A.1986, S.415)

Nun stellen sich natürlich einige Fragen.
Ist die "Selbstkasteiung" unchristlich? - Nein. Wir kennen die Beispiele von Johannes dem Täufer und Jesus, die sich immer wieder in die Wüste zurückzogen, um sich konzentriert Gott zuwenden zu können. Dazu kann Fasten helfen. Sinnvoll angewendet ist es eine Hilfe, gesund zu werden und gesund zu bleiben. Es gibt noch einen anderen Grund: Der Teufel führt Jesus in die Wüste, um ihn zu versuchen. Die Evangelisten Matthäus (4,1-11), Markus (1,12 - 13) und Lukas (4,1-13) berichten davon. Jesus widersteht dem Teufel. Manche Christen nehmen sich vor, eine Versuchung, der sie sonst kaum widerstehen, in der Fastenzeit zu meiden - z.B. Schokolade, Zigaretten, Alkohol. Dies alles geschieht aber in Übereinstimmung mit Gottes Auftrag und im Hören auf ihn.
Gott verbietet uns auch nicht , mit ihm zu sprechen und mit ihm zu streiten. Ja, wir dürfen ihn auch bedrängen in persönlicher Not. Der Psalmdichter hat es uns gezeigt:
Sei mir ein starker Fels und eine Burg (Psalm 31, 3)

Kanzelsegen:
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.

Wege in die Freiheit: Du bist mein

9. Ökumenische Woche Leverkusen-Manfort 15.03.2002 WEGE IN DIE FREIHEIT
Abschlußgottesdienst am Freitag, 15.03.2002 in der Pfarrkirche St. Joseph

Kanzelgruß
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Wir hören heute das Bundesangebot Gottes an das Volk Israel, das er aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit hat. Jetzt lagert es nach drei Monaten Wanderung durch die Wüste am Berge Sinai. Mose bringt seinem Volk folgendes Angebot von Gott:
" ... wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde. .."
(Einheitsübersetzung der Bibel, Exodus (2.Mose) Kap. 19, 5)

Seit Montag begleiten wir das Volk Israel auf seinem Weg, dem wir das Motto "Wege in die Freiheit" gegeben haben. Und die Abende beschreiben solche Wege:
- Zueinander finden
- Gott auf der Seite der Unterdrückten
- der festgenagelte Gott
- die Rettung im Schilfmeer

Heute nun heißt die Überschrift
Du bist mein

Am Anfang war Verunsicherung. Weder hat Mose seine fünf Bücher geschrieben, noch ist es ganz sicher, ob es ihn so gegeben hat, wie er uns in den Büchern begegnet.
Dann aber ging es weniger um Mose als um Gott. Das ist auch so eine eigenartige Sache: Man darf ihm keinen Namen geben, man soll sich kein Bild von ihm machen - und doch sind alle Bücher voll von ihm und seinem Handeln. Er wendet sich den Unterdrückten zu und stärkt ihre Position in dieser Welt. Ja, er befreit ein ganzes Volk und führt es in ein nur ihm bekanntes Land.
Das Volk wird ungeduldig. Es sieht diesen Gott nicht. Und als nun Mose ungewöhnlich lange wegbleibt, schaffen sie sich ein Bild so, wie sie, die in Ägypten aufgewachsen sind, sich einen Gott vorstellen - einen Stier. Doch Gott läßt sich nicht auf ein bestimmtes Bild festnageln. Der Stier wird zerstört.
Das Ereignis am Schilfmeer: Gott läßt die Israeliten durch das Meer trocken hindurchgelangen, ertränkt aber die verfolgenden Ägypter mit Mann und Roß und Wagen . Dies Ereignis wird erst viel später aufgezeichnet und niemand weiß so recht, wie es geschah. Aber die Siegeslieder des Mose - Exodus (2.Mose)15,1- 20 - und der Prophetin Mirjam - Exodus 15,22 f. - sind erhalten. Wir haben eine moderne Nachdichtung vorhin gesungen.
Ja,-"manchmal kennen wir Gottes Willen, manchmal kennen wir nichts," So mag mancher gedacht haben, als er die verwirrenden Angaben hört über das, was in diesem Buch beschrieben ist.
Für mich aber ist eines deutlich geworden: Ein Geschichtsbuch ist das 2. Buch Mose nicht, aber es ist ein Glaubensbuch. Irgendwann - kaum jemand kann heute sagen, wann das war - irgendwann haben Menschen von ihren Erfahrungen berichtet. Aus diesen Berichten wurden Erzählungen und über viele Generationen hinweg entstand schließlich das, was wir heute als Bibeltext, als "Gottes Wort", vor uns haben. Die Bibel ist eine ungemein reichhaltige Sammlung von Glaubenszeugnissen an diesen einen Gott.
Da wird dann auch verständlich, daß dieser Gott keinen Namen trägt und kein Bild von ihm gemacht wurde. "Gott ist anders als wir denken", sagt der Liederdichter Kurt Rommel in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts - "Evangelisches Jugendgesangbuch" , Gütersloh, 1974, Nr. 122, S. 208 - . Das ist unsere Chance! Er begegnet jedem von uns auf eine besondere Art und Weise, die ihm entspricht. Ist das nicht eine ganz neue Art von Freiheit? -
Und so geht es immer mit der Freiheit: Am Anfang ist Unsicherheit da. Wir sind unsicher über das, was unser Freiraum ist und über die Quelle, die uns hilft, wenn wir Hilfe brauchen.
Wir sprachen gestern vom Leben aus erster und aus zweiter Hand. Bald waren wir uns einig, hier von Eigenverantwortung und von fremdbestimmten Leben zu sprechen.
Hier am Sinai legt Gott dem Volk Israel sein Angebot vor. Er stellt es ihm frei, sein Angebot anzunehmen oder nicht. Das Volk nimmt dieses Angebot an. Ich frage mich, was das Volk unter den gegebenen Umständen anders hätte tun können. Später entscheidet es ja anders, es schafft das goldene Stierbild, weil es sich von Gott und Mose verlassen fühlt - Exodus 32 -. Es gibt schon eine Möglichkeit, eine eigene Entscheidung zu treffen. Gewiß, wir sind Gottes Eigentum. Aber er läßt uns Entscheidungsfreiheit. Sein Angebot hat uns bis zum heutigen Tage nicht verlassen. Jesus Christus hat mit seinem Leben, Sterben und mit seiner Auferstehung dieses Angebot Gottes erneuert. Er hat den Gesetzen des Mose eine neue Priorität verschafft: Gott zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst, das ist das wichtigste Gebot!
In diesen Tagen geht ein Ereignis durch Presse und Rundfunk, das für mich eindrucksvoll belegt, wie schwierig es in der Zeit heute ist, Gottes Bundesangebot anzunehmen:
Papst Johannes Paul II. hat dem Bischof von Limburg Franz Kamphaus die Zuständigkeit für die Schwangerschaftsberatung entzogen und dem Limburger Weihbischof Gerhard Pieschl übertragen.
Ich gehe auf den Inhalt des Konflikts nicht ein. Die meisten von uns werden die Diskussion seit 1999 verfolgt haben. Mir geht es um folgendes: Papst und Bischof wissen sich als Eigentum Gottes. Beide handeln, um Leben zu schützen - auch das Ungeborene.
Bischof Kamphaus sagt: "Ich war und bin überzeugt, daß wir auf unserem Wege der Konfliktberatung mehr Kindern das Leben retten können."

Der Papst ist sich in der Verantwortung für die Welt sicher:
Wir würden einen Damm niederreißen, wollten wir hier nachgeben. Und damit meint er wohl, daß im Konfliktfall die Hemmnisse, Leben zu vernichten weltweit durchlässiger würden.
Die Presse spricht vom Rebell Kamphaus und vergleicht ihn mit dem Apostel Paulus, der in der Auseinandersetzung mit Petrus sich durchsetzte und die Heidenmission begann. Ich glaube, das ist ein falsches, vielleicht sogar schiefes Bild. Bischof Kamphaus wäre der erste, der einen solchen Vergleich ablehnte. Für mich ist Bischof Kamphaus eher ein Mensch wie Franz von Assisi, der heilige Franziskus (1181/82–1226). Er sieht die Kreatur, den Menschen in seinen Verstrickungen. Er erkennt, was die Liebe ihm gebietet zu tun. Er ist überzeugt, am Ende siegt die Liebe und das Leben.
Papst Paul Johannes II. versteht seinen Bischof - und doch kann er ihm nicht folgen. Seine Entscheidung zeugt von Einsicht und Rücksicht.
Ich bin dankbar, daß ich dieses Beispiel für die Entscheidung von Christen in unserer Zeit heute hier nennen kann.
Gerade wir Evangelischen neigen leicht zu Pauschalurteilen, meist geprägt von persönlichen Erfahrungen oder Vorurteilen. Ich bin dankbar dafür, daß wir miteinander sprechen und gemeinsam Gottesdienst feiern.
Vor etwa sechs Jahren stand ich schon einmal hier. Die Ökumenische Woche stand unter dem Wort des Propheten Micha: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist." - Micha 6,8a - Der Gottesdienst trug das Motto: "Hoffnung im Chaos". Das war zum Ausgang des vergangenen Jahrhunderts.
Ich danke dafür, daß ich als evangelischer Predigthelfer heute hier bei Ihnen sein kann - es neigt sich die Zeit und ein Ende auch dieses Amtes kommt in Sicht. Mögen die Wege in diesem Jahrhundert viele Menscher in die Freiheit führen!

Kanzelsegen
Der Friede Gottes, welcher! höher ist als alle Vernunft, bewahre
Eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Lieder:
GL-"Gotteslob", kath. EG - "Evangelisches Gesangbuch", ev.-WEST
- "Nun jauchzet all ihr Frommen ... GL474/EG 9
- "Manchmal kennen wir Gottes Willen ..." GL 299/EG (Württemberg) 626
- "Im Lande der Knechtschaft ..." GL -/EG 680
- "Gott liebt diese Welt ..." GL 297/EG 409
- "Verleih uns Frieden ..." GL 310/EG 421

Material:
- Martin Noth "Das 2. Buch Mose Exodus", als Band 5 erschienen in der
Reihe "Altes Testament deutsch" - ATD - im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 7.A. 1987, S.121 bis 135

Nachtrag 2013:
Das Verhältnis zwischen Papst und Bischof von Limburg hat sich 2013 verkehrt. Jetzt vertritt der Papst eine Rolle nahe an Franziskus von Assisi, der Bischof verliert sich in traditioneller Repräsentation.
Zu Papst Franziskus vgl. seinen Fragebogen an die Gemeinden.
Zum Presse-Echo auf die Papstumfrage vgl. u.a. ZEIT vom 7.11.13

Samstag, 14. Februar 2009

Taufe - Gottes Hinwendung zum Menschen

Vor dem ersten Golfkrieg; George Bush (sen.)/ Saddam Hussein
1. Sonntag nach Epiphanias 13.01.1991

Vorbemerkung:
Der Gottesdienst wurde in Rheindorf-Süd mit Abendmahl und danach in Rheindorf-Nord mit Taufe gehalten. Die Taufhandlung wurde im Anschluß an Predigt mit Taufansprache vorgenommen.


Kanzelgruß

Als Predigttext hören wir den Bericht über Jesu Taufe durch Johannes
nach dem Matthäusevangelium. Dort heißt es in Kapitel 3, 13-17
(13) Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu
Johannes, daß er sich von ihm taufen ließe.
(14) Aber Johannes wehrte ihm und sprach: Ich bedarf dessen,
daß ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir?
(15) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Laß es jetzt geschehen!
Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da .
ließ er's geschehen.
(16) Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem
Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er
sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über
sich kommen.
(17) Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist
mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.

Lieber himmlischer Vater,
wir möchten gern an dich glauben und wären dieses Glaubens gerne auch sicher. Es würde uns helfen, könnte uns die Taufe darin sicher machen. Das aber ist nicht so. Immer wieder zweifeln wir. Immer wieder von neuem handeln wir gegen deine Liebe. Mach du uns frei, dir nachzufolgen mit immer neuer Fröhlichkeit, Offenheit und Dankbarkeit. Amen.

Wir kommen von Weihnachten her. Zuletzt haben wir von der Anbetung durch die drei Weisen aus dem Morgenland gehört und wissen, daß sich Maria und Josef der Verfolgung durch den König Herodes entzogen, indem sie nach Ägypten flüchteten. Vielleicht erinnern wir uns auch des Berichts im Lukasevangelium, wonach der Junge zu seinen Eltern sagt: "Warum suchtet ihr mich? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“(Lk 2,49). Mit diesem Hinweis begründete Jesus sein Fernbleiben von zu Hause und den Aufenthalt im Tempel, wo er mit Pharisäern und Schriftgelehrten sprach.
Es ist, als gebe es danach einen weißen Flecken, eine unbekannte Lebensspanne Jesu. Lukas beendet seinen Bericht mit dem Satz:
"Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ Lk 2,52).
Jetzt auf einmal ist er da - und von nun an wird er uns nicht mehr verlassen. Aber so plötzlich tritt er doch nicht auf, wie es scheint. Johannes der Täufer hat schon lange vor ihm sein Ankommen angekündigt und die Menschen aufgerufen, von ihrem Weg in die Gottesferne abzulassen. Sie sollten umkehren, zu Gott.
Und nun steht Jesus plötzlich vor ihm. Er kann das kaum glauben. Zwar erkennt er, daß Jesus sich von ihm taufen lassen will. Das lehnt er entschieden ab. Höchstens umgekehrt gäbe es einen Sinn: Jesus der angekündigte Messias und Sohn des einen Gottes tauft seinerseits Johannes, der das Erscheinen dieses Messias in der Welt angekündigt hat. Jesus versteht ihn und versucht, Johannes mit Güte zu bewegen zuzulassen, was jetzt geschehen soll: „Laß es jetzt geschehen!" Johannes folgt schließlich dieser Aufforderung. Daß dies um der Gerechtigkeit willen geschehen soll, wird er vielleicht nicht verstanden haben.
Hier aber liegt ein Hinweis auf den Kern dieser Geschichte - vor allem ein Hinweis auf den Umgang Gottes mit den Menschen. Dieser eine Gott mißt jedem das Maß zu, das ihm gerecht wird. Bei ihm gibt es keine "Gerechtigkeit", die für alle gleich aussähe, sondern eine solche, die für jeden einzelnen von uns die ihm und seinem Wesen entsprechende Gerechtigkeit ist.
Die Taufe war immer eine zeichenhafte Handlung, in der sinnlich erfahrbar der Mensch gewaschen, d.h. gereinigt wird von allem, was ihm vorher anhaftete und der nun sauber und frei ist für das neue Leben in diesem Gott der Liebe. Ein Beleg dieser Liebe ist dieser Mensch Jesus. Ein Zeichen dieser Liebe ist auch, daß sich Jesus wie all die anderen Menschen auch taufen läßt, obwohl er nichts abwaschen muß und kein neuer Mensch zu werden braucht. Johannes versteht das wohl nicht ganz - aber er tut, was Jesus von ihm will.
Da geschieht etwas Unfaßbares: Der Himmel öffnet sich - eine Taube fliegt herab und eine Stimme sagt: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.
Nun wissen es die Menschen; Dieser junge Mensch, der sich eben taufen ließ - gegen den ursprünglichen Willen des Täufers Johannes - dieser junge Mann ist Gottes Sohn, ein Sohn den Gott liebt. Mehr noch geschieht: In der Taube, die vom Himmel herab auf die Erde kommt, sehen die gläubigen Menschen den Geist Gottes, der Jesus erfaßt hat - und das Zeichen des Friedens in der Welt, für den dieser Jesus von nun an eintreten wird.
Von nun an liegt Jesu Weg auf dieser Erde offen vor uns. Mit der Taufe beginnt sein eigentlicher Verkündigungsauftrag auch den Mensche um ihn sichtbar zu werden. Das ist das Besondere an diesem Bericht und deshalb wird er auch oft im Zusammenhang mit der Anbetung durch die drei Weisen und Jesu erster Wundertat mit der Verwandlung von Wasser zu Wein auf der Hochzeit zu Kana genannt. In gewisser Weise ist Jesu Taufe auch zum Vorbild der Taufhandlung geworden, die wir Christen vollziehen. In allen drei Berichten werden Menschen von der göttlichen Erscheinung Jesu (gr. Epiphanie) erfaßt und sie bezeugen seine Eigenschaft als Sohn Gottes.
Wie sieht nun Jesu künftiger Lebensweg aus? Der Teufel wird ihn versuchen, Jesus bleibt standhaft und wird als wandernder Prediger durch Galiläa ziehen. Wir wissen auch, wie sein Leben auf dieser Erde endet: Verachtet, geschunden und verhöhnt stirbt er den verächtlichen Verbrechertod - unter Schmerzen. Doch danach steht er aus dem Grabe auf und verkündet denen, die ihm nahe stehen, daß er sie nicht verlassen wird. Das ist dann auch der letzte Satz dieses Evangeliums, nachdem Jesus seinen Jüngern den Taufbefehl erteilt hat:
"Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker. Taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ (Mt.28,19-20).
Diesen Auftrag erfüllen wir auch heute noch. Wir möchten unsere Kinder so früh wie möglich auch äußerlich sichtbar unter die Liebe Gottes stellen und taufen deshalb bereits die Säuglinge.
Hier sind es die Eltern und Taufpaten, die für das Kind eintreten. Sie versprechen, dafür zu sorgen, daß dieser Taufbefehl an diesem Kind
vollzogen wird und daß auch dieses Kind einmal von der Erscheinung des Gottessohnes erfaßt wird und die Liebe Gottes erfährt, die auch dieses Kind trägt. Auf diese Weise verbindet sich der Beginn des öffentlichen Lebensweges Jesu - ein Weg der Liebe Gottes zu den Menschen - mit dem Beginn des Lebensweges unserer eigenen Kinder.
Wie wird aber ihr Weg hier auf dieser Erde aussehen?
Selten war es den Menschen auf dieser Erde so bewußt wie heute, an diesem ersten Sonntag nach dem Epiphaniasfest im Jahre 1991, daß wir alle in Gottes Hand stehen und immer wieder seine Liebe zu uns verraten - ob wir das wollen oder nicht.
In zwei Tagen, am Dienstag, 15.01.1991, läuft das Ultimatum ab, das der Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush (sen.), dem Führer des Irak, Saddam Hussein, gestellt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt soll Hussein das Scheichtum Kuwait geräumt haben, andernfalls sei Krieg nicht ausgeschlossen. Hochgerüstet stehen sich zwei Staaten gegenüber - George Bush (sen.) weiß die ganze westliche Welt hinter sich. Saddam Hussein fühlt sich als ein von Gott auserwählter Führer des Islam. Man hat ihn den "Teufel" genannt. Ich neige dazu, ihn für ein brutalen, unverantwortlichen Egoisten zu halten, der vom wirtschaftlichen Zusammenbruch seiner Herrschaft ablenken wollte und dazu eine militärischen Erfolg erzwingen will. - Und George Bush (sen.)? Ich bin nicht sicher, ob nicht auch er das Opfer der Hochrüstung in den vergangenen Jahren geworden ist und die Kriegsmaschine nicht mehr aufhalten kann.
Kommt es nun zum Krieg - oder nicht? Und wenn es Krieg gibt - wie wird er aussehen?
Keiner von uns weiß eine Antwort. Mir scheint aber, daß der Krieg, der jetzt entstehen könnte, die Ausmaße eines dritten Weltkriegs erreichen kann.
Aber nicht genug mit dieser Gefahr: Der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1990, Michael Gorbatschow, der seit dem Jahre 1987 für Freiheit, für Offenheit gegenüber Veränderungen (Glasnost) und für die Umgestaltung der Diktatur sowjetischer Staaten zu demokratischen Strukturen (Perestrojka) eintritt, dieser selbe Gorbatschow hat in der vergangenen Woche Militär in Wilna einmarschieren lassen. Er stellt sich den Freiheitsbestrebungen der baltischen Staaten entgegen. Erste Schüsse sind gefallen. Es scheint, als sei Gorbatschow in die Abhängigkeit sowjetischen Militärs geraten.
Und wie erleben wir diese Zeit, diesen Jahresbeginn 1991?
Nicht zuletzt wegen der Reformpolitik Gorbatschows sind Mauern in Deutschland gefallen und Grenzen in Osteuropa durchlässig geworden. Wir Deutsche sind ein Volk - wenn wir auch noch zusammenwachsen müssen.
Die Ungewißheit und Sorge um Frieden und Gesundheit in der Welt treibt viele Christen um. Die Kriegsgefahr am Golf macht auch hier Menschen in Deutschland krank vor Angst und Sorge - vor allem aber auch deshalb, weil wir nichts tun können, um diese Gefahr abzuwenden.
Es ist gut, wenn wir uns die Offenheit bewahren konnten, um so empfinden zu können. Nur aus einer solchen Offenheit kann Verantwortung für die ganze Schöpfung wachsen, nur aus solcher Offenheit kann unser Leben Intensität, Tiefe und eine eindeutige Richtung gewinnen. Nur aus solcher Offenheit heraus können wir auch Kraft bekommen, in dieser Welt zu leben, sie zu gestalten nach unseren Kräften - in der Verantwortung vor Gott. Das alles kann aber nur geschehen, wenn uns unsere Angst nicht verzehrt und die Krankheit nicht lähmt.
Offenheit heißt nämlich auch, daß wir das Schöne in dieser Welt, das Gute und die Chancen sehen und dankbar annehmen, die - uns immer noch -ja, immer wieder gegeben werden. Die größte Chance des Christen ist das Wort seines Gottes, daß er ihn liebt und nie verläßt. Um uns einander immer von neuem daran zu erinnern sind uns die Sakramente von Taufe und Abendmahl gegeben. Öffnen wir unsere Herzen auch für diese Gaben unseres Gottes, nehmen wir sie dankbar an und erleben sie unter dem Druck einer Gefahr, die aus dieser Welt kommt, neu!
Gottes Schöpfungsplan ist unergründlich, auf das "Warum?" wissen Menschen keine verbindliche Antwort, vielleicht eine suchende und
stammelnde Erklärung.
Alle menschliche Erfahrung aber zeigt, daß der Schöpfungsplan Gottes im Kern gut ist und daß wir aufgerufen sind, diesen Kern frei zu legen und zu erweitern. Wir sind aufgerufen, nach unseren Kräften mitzuwirken in dieser Welt, damit die Liebe kein Ende findet und das Böse am Ende doch in Ohnmacht versinkt. Das kann nur gelingen, wenn wir nicht die Kraft verlieren, uns zu freuen, wo es etwas zu freuen gibt und zu danken, wo wir Anlaß haben zu danken, Gott unserem Schöpfer, oder zu danken Menschen, die uns begegnen.

Liebe Eltern, liebe Paten, liebe Gemeinde,
weil das alles so ist, wie ich eben sagte, habe ich mich über die Wünsche gefreut, mit denen die Eltern die Taufe ihres Kindes in die Erfahrungen ihres Lebens einbezogen haben.
Sie haben gewünscht, daß wir singen möchten:

Danke für diesen guten Morgen,
danke für jeden neuen Tag,
danke, daß ich all meine Sorgen
auf dich werfen mag.
Danke für jedes kleine Glück,
danke für alles Frohe, Helle
und für die Musik.

Danke, daß ich dein Wort verstehe,
danke, daß deinen Geist du gibst,
danke, daß in der Fern und Nähe
du die Menschen liebst. SuD 723/ eg 334

Ich möchte wünschen, daß dieses Lied heute mit aller Fröhlichkeit und Dankbarkeit gesungen wird - und an allen Tagen der kommenden Woche und der Monate und Jahre danach, in Krieg und Frieden, in Not und Überfluß, in Krankheit und Gesundheit.
Danke, daß ich dein Wort verstehe, danke, daß deinen Geist du gibst ...

Der zweite Wunsch war der Taufspruch. Er steht im Markusevangelium und zwar im Kapitel 9. Er heißt
alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Mk.9,23b
Mit Recht wird mancher einwenden, daß Jesus mit dieser Feststellung etwas weit geht. Aber lassen Sie uns versuchen, den Zusammenhang herzustellen, in dem Jesus dieses Wort sagt.
Ein Vater kommt mit seinem kranken Sohn zu Jesus. Er schildert ihm das schreckliche Krankheitsbild. Alle wissen, daß nach menschlichem Ermessen keine Heilung möglich ist. Der Vater wendet sich an Jesus und bittet ihn: "Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!" Jesus antwortet: "Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt." Der Vater schrie auf und rief: "Ich, glaube, hilf meinem Unglauben!" Daraufhin heilte Jesus den Sohn. Er erklärt den Jüngern, daß diese Krankheit nur durch Beten geheilt werden könne.

Die Geschichte will die Not menschlichen Un- und Halbglaubens darstellen. Wer glaubt, der kann das nur im Vertrauen darauf, daß Gott ihm die Kraft dazu gibt. Auf sich allein gestellt verlöre der Mensch die Kraft zum Glauben. In anderen Fällen sagt Jesus: "Dein Glaube hat dir geholfen." Die Kraft und die Intensität, mit der sich der Mensch auf Gott einläßt und sich seiner Liebe öffnet, erschließt ihm neue und weitere Möglichkeiten als andere Menschen sie haben.
Mit der Wahl dieses Taufspruches bezeugen die Eltern, daß sie von dieser Kraftquelle wissen und weitergeben wollen an ihr Kind. Sie werden diese Kraft auch brauchen, denn niemand weiß, was diesem Kind auf seinem Lebensweg begegnen wird. Mit den Eltern versprechen auch die Paten dafür zu sorgen, daß von dieser Kraft etwas weitergegeben wird an den Täufling.
Wissen auch wir, die Gemeinde, daß wir den Auftrag von Gott haben, uns um dieses Kind zu kümmern, das heute in die Gemeinde aufgenommen wird? Gelegentlich habe ich meine Zweifel. Die Taufe aber ist ein Band, das alle Christen miteinander verbindet. -
Ich würde jetzt gerne noch von diesem Band sprechen, Paulus hat das in seinem Brief an die Christen in Rom in dem 6. Kapitel sehr eindrucksvoll getan. Das aber wäre eine neue Predigt. –

Herr,
deine Güte reicht , so weit der Himmel ist,
und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.
Deine Gerechtigkeit ist wie die Berge und dein Gericht ist tief, wie das Meer.
Aus deinem Leben leben wir auch;
und wir erkennen erst in deinem Licht das Licht.
Amen.
aus "Mein Liederbuch fpr heute und morgen", tvd Düsseldorf. B 14 (Auswahl)
Kanzelsegen
Lieder
Jesus ist kommen ... EKG 53/ eg 66
Du höchstes Licht ,... EKG 337/eg 441
Danke für diesen guten Morgen ... SuD 723/eg 334
Ihr seid das Volk, das der Herr sich ausersehen *.. SuD 711 b/
EG Bay/Thür 636 Herr, wir bitten, komm und segne uns ... SuD 647/ eg 607
EKG = Evangelisches Kirchengesangbuch, galt in der Rheinischen Landes
kirche bis 1996
SuD= Singt und dankt, Beiheft '84 zum EKG in der Landeskirche Rheinland
eg = Evangelisches Gesangbuch (-West), seit 1996 in der Rheinischen
Landeskirche eingeführt
EG = Evangelisches Gesangbuch, in den übrigen Landeskirchen
hier: Bayern(Bay) und Thüringen (Thür)
Materialien:
Voigt, Gottfried
"Homiletische Auslegung der Predigttexte der Reihe III:
Der rechte Weinstock", Berlin, Evangelische Verlagsanstalt,2.A.1974,
S. 69 - 75
"Homiletische Auslegung der Predigttexte der Reihe III:
Die geliebte Welt", Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.2.A.1986, S. 391 - 397
Eduard Schweizer
in der Reihe "Neues Testament Deutsch" - NTD -, Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht:
"Das Evangelium nach Markus", NTD Bd.1, 15.A.1978, S. 100 - 103
"Das Evangelium nach Matthäus", NTD Bd.2, 15.A. 19B1, S. 27 - 30

Mittwoch, 11. Februar 2009

Vergebung der Sünden - Kreuz des Friedens

Passionsandacht 20.02.1991

Das entscheidende Wort in diesem Gottesdienst sagt Jesus selbst:
"...Trinket alle daraus; das ist mein, Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden..." Mat. 26,27f (Luther, 1956)

In neuerer Übersetzung:
"... Trinket alle daraus, das ist mein Blut, das für alle Menschen vergossen wird zur Vergebung ihrer Schuld. Mit ihm wird der Bund besiegelt,
den Gott jetzt mit den Menschen schließt ..." ("Bibel in heutigem Deutsch", BHD, 1982)

Das Entscheidende an dieser Aussage ist die Feststellung, daß von Gott her die Schuld der Menschen gelöscht, aufgehoben wird. Mit dem Blut Jesu Christi wird ein neuer Bund geschlossen, ein Bund, der die Menschwerdung Gottes zur Grundlage hat - Gott als Mensch, ein leidender und sterbender Mensch.
Er macht uns frei vor Gott - und kein Mensch, keine Kirche, keine Institution darf uns mehr einreden, daß wir unsere Schuld, die Schule unserer Väter und Vorfahren vor Gott abbüßen, daß wir sie immer von neuem tilgen müssen.
Der Apostel Paulus hat den Korinthern diesen Tatbestand mitgeteilt mit den Worten:
"...Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung ..."
2.Kor.5,19
Mit diesem Apostelwort von der Versöhnung begannen in diesem Jahr die Ansprachen in den Passionsgottesdiensten in unserer Gemeinde. Ich bin dankbar dafür, daß gerade in diesem Jahr 1991 die Passionsgottesdienste mit dem Wort von der Versöhnung begonnen haben - in Monaten, in denen überall Menschen und Völker einander die Schuld und die Sünden ihrer Väter und Vorfahren vorwerfen.
Heute hören wir Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Christen in Korinth:
"... das Wort vom Kreuz
ist eine Torheit denen,
die verloren werden;
uns aber, die wir selig werden,
ist's eine Gotteskraft ...
... die Juden fordern Zeichen,
und die Griechen fragen nach Weisheit,
wir aber predigen den gekreuzigten Christus,
den Juden ein Ärgernis
und den Griechen eine Torheit."
1 . Kor. 1,18 - Luther '84 -

Auch hier will ich dem Luther-Text eine moderne Übertragung gegenüber stellen:
„...Die Botschaft, daß für alle Menschen am Kreuz die Rettung vollbracht ist, muß denen, die verlorengehen, als barer Unsinn erscheinen. Wir aber, die gerettet werden, erfahren darin Gottes Kraft.
Gott hat doch gesagt:
'Ich will die Weisheit der Weisen zunichte machen
und die Klugheit der Klugen verwerfen.'..."
1. Kor. 1,18 - BHD, 1982 -

Für die Zeitgenossen des Apostels ist es undenkbar, daß ein Gott armselig ist, leiden muß und den schmachvollen Tod eines Verbrechers stirbt. Wer das für möglich hält und es sogar darüberhinaus als ein Zeichen für die Stärke dieses Gottes ansieht, der hat entweder nicht mehr alle Sinne beisammen oder er will den einen, den allmächtigen Gott beleidigen, den Gott, der hoch über allen Menschen steht. Ich denke, daß wir uns gut in diese Vorstellungswelt hineinversetzen können.
In unserer Zeit dagegen, im Jahre 1984 , kann der jüdische Philosoph Hans Jonas von einem Gott sprechen, von einem Gott, der sich sorgt - nicht fern und losgelöst als Herr der Geschichte -, sondern verwickelt in das worum er sich sorgt. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Juden mit dem Holocaust im Dritten Reich, bei dem auch seine Mutter im Vernichtungslager Auschwitz getötet wurde, erkennt Jonas, daß Gott ein gefährdeter Gott ist, ein Gott mit eigenem Risiko. Das ist dann kein allmächtiger Gott mit absoluter, unbegrenzter, göttlicher Macht mehr.
Für Jonas ist deutlich: Im Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht auf göttliche Macht. Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineinbegab, hat Gott nichts mehr zu geben. Jetzt ist es am Menschen, zu geben.
(Hans Jonas in "Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme", Frankfurt/Main. Suhrkamp. st 15 1987. 49 S.)

Mit der Vollendung seines Schöpfungswerkes hat dieser Gott die Schöpfung sich selbst überlassen und begleitet ihren Gang leidend, werdend, sorgend und immer von neuem gefährdet - ein Gott, der sich freiwillig seiner Allmacht entäußert. Soweit eine jüdische Stimme, heute. Mir ist, als sei hier viel vom Wesen Christi erlebt und beschrieben; dennoch fehlt das Wichtigste: die Erlösung.
Die Griechen stehen damals für den Stand der Wissenschaft ihrer Zeit. Sie setzen auf Erkenntnis - und können deshalb die Botschaft vom Kreuz nicht verstehen. Heute dagegen ist Wissenschaft durchaus vereinbar mit dem Glauben an einen leidenden und geschundenen Gott. Die Arbeit - nicht zuletzt an den weltzerstörenden Atomwaffen - hat gerade vielen Wissenschaftlern die Augen geöffnet. Natürlich gibt es auch heute noch Wissenschaftler, die jeden Glauben ablehnen und die Existenz jeden Gottes bestreiten. Das ist ihr persönlicher Glaube -das ist nicht mehr die letzte Konsequenz wissenschaftlicher Erkenntnis.
Dennoch erheben sich immer mehr Stimmen gegen diese Botschaft vom Kreuz - und das treffendste Argument zielt auf die Boten selbst, die häufig ganz offensichtlich keine Ahnung haben von diesem leidenden, sorgenden Gott, sondern die Macht dieser Welt in ihre Hand nehmen und Verderben in diese Welt tragen und dabei noch Gott bitten, daß er sie selbst und ihre oft unschuldigen Handlanger vor dem Verderben schützen möge, das sie anderen - und oft noch unschuldigen - Menschen bereiten. Ich hätte kaum daran gedacht, daß das am Ende dieses Jahr-hunderts in einem solchen Ausmaße möglich sein könnte, wie es jetzt geschieht. Diese Menschen mögen sich Christen nennen, aber die Gottes kraft, von der Paulus spricht, gewinnen sie nicht aus der Botschaft
vom Kreuz.
Im Zusammenhang mit dem Golfkrieg sind die Deutschen ins Gerede gekommen: "Feiglinge", "Schlappschwänze" hat man sie genannt (als ein Beispiel für viele der Bericht von Reinhart Hacker "In England wächst der Unmut über Deutsche. ‚Feiglinge’ als Partner" in KÖLNER STADT-ANZEIGER. 26 vom 31.01.1991).
Die Friedensbewegung in Deutschland wird von vielen Kräften getragen - nicht von allen lassen sich die Motive eindeutig benennen. Die von Christen und den christlichen Kirchen getragener Friedensbewegung lebt ganz bewußt von der Entscheidung für die Botschaft von der Versöhnung dieses leidenden und gefährdeten Gottes. Der Welt erscheinen sie auch heute noch als Toren, als Unvernünftige, als Träumer von einer besser Welt. Ihnen fehlt die Solidarität mit den Realisten, der Blick für die Wirklichkeit, in der wir leben. Daran ist etwas Wahres. Für mich sind die Demonstranten Sinnbild für das Gewissen - gerade der Menschen im neu gewonnenen Deutschland. Die Politiker dagegen müssen die Kunst des Möglichen ausrichten in dieser Welt.
Wie wir selbst oft nicht der Stimme unseres Gewissens folgen, so gelingt das auch christlichen Politikern nicht. Auch für sie gilt das Wort des Präses unserer evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, daß man oft nicht mehr zwischen gut und böse die Wahl hat, sondern nur noch zwischen mehr oder weniger böse (nach "Krieg ist stets der Konkurs der Politik« in KÖLNER STADT-ANZEIGER 28 vom 02./03. Februar 1991). Mich läßt diese Aussage hoffen. Wir verhalten uns immer wieder lieblos oder streiten, wenn wir liebevoll oder friedlich miteinander umgehen sollten. Wenn wir das erkennen, dann können wir damit umgehen - besser, als wenn wir glaubten, wir seien die besseren Menschen. Es ist eben nicht so, daß die Christen die Gotteskraft gewinnen und die anderen alle verzweifeln. Es liegt an jedem von uns, ob er sich der Botschaft vom Kreuz öffnet und den leidenden, sich sorgenden, den gefährdeten Christus einläßt in sein Herz. Von daher kann dann jene Gotteskraft wachsen, von der der Apostel Paulus spricht.
Vor einiger Zeit sprach ich einmal davon, daß moderne Maler in eigenartiger Weise zwei verschiedene Ansichten in einem Bild vereinigen - so tut es etwa Pablo Picasso bei einigen seiner Portraits, in denen das Gesicht gleichzeitig von vorn und von der Seite dargestellt wird (z.B. Bildnis "Doris Maar", 1937, in Ingo F. Walther "Pablo Picasso", Köln, Benedikt Taschen Verlag. 1986, S.63).
So ist auch das Kreuz nicht nur Zeichen der Botschaft vom leidenden, gequälten, gefährdeten und zu Tode geschundenen Gott, sondern zugleich das Zeichen für die Auferstehung von den Toten, Zeichen für die Überwindung des Todes, Zeichen für die Versöhnung und für die allumfassende Liebe Gottes.
In Jesus Christus und durch sein Leben und Sterben, durch seine Auferstehung sind wir mit Gott versöhnt. Gott hat uns seinen Frieden gegeben, er hat mit allen Menschen durch Jesus Christus Frieden geschlossen. -
Vielleicht erscheint uns das heute selbstverständlich. Aber wenn wir daran denken, daß Jesus Christus auch für Saddam Hussein gelitten hat, gestorben ist und auferstand - dann wird uns deutlich, wie revolutionär diese Botschaft vom Kreuz auch heute noch ist.
Jetzt kommt es tatsächlich auf uns an, ob wir diesen Frieden annehmen können - und ob wir diesen Frieden auch untereinander in dieser Welt weitergeben und mit neuem Leben erfüllen können. -
Der Apostel schließt seine Botschaft über das Wort vom Kreuz mit den Sätzen:
Gott handelt gegen alle Vernunft –
und ist doch weiser als alle Menschen. Gott zeigt sich schwach –
und ist doch stärker als alle Menschen.
1 . Kor. 1,25 Amen
Lied
0 Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens
in Evangelisches Jugendgesangbuch - EJ - Gütersloh, 1974, Nr. eg 416
Materialien
Heinz-Dietrich Wendland "Die Briefe an die Korinther"
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.15.A.1980, S. 20 - 23 Das neue Testament Deutsch - NTD - Band 7

Dienstag, 10. Februar 2009

Frieden mit dem Kreuz - Christsein heute

24.03.1991
Palmsonntag

Als Predigttext hören wir heute den Bericht über den Einzug Jesu in Jerusalem, wie er uns im Evangelium nach Johannes überliefert ist.
Wir hören aus dem 12. Kapitel die Verse 12 - 19:

(12) Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, daß Jesus nach Jerusalem käme,
(13) nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen:
Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!
(14) Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht,(Sacharja 9,9):
(15) "Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen."
(16) Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, daß dies von ihm geschrieben stand, und man so mit ihm getan hatte.
(17) Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat.
(18) Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
(19) Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, daß ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Herr, unser Gott, lieber himmlischer Vater,
du hast deinen Sohn zu uns gesandt, damit er uns von unserer Sünde befreit. Die Menschen haben ihn jubelnd begrüßt - und danach ans Kreuz geschlagen. Sie haben ihn getötet. Du aber hast ihn auferweckt und ihn in deine Herrlichkeit gerufen. Damit hast du uns frei gemacht, aus der Kraft deiner Liebe zu leben und für die Liebe unter uns Menschen einzutreten. Hilf uns, diesen Weg zu gehen! Amen.

Heute ist Palmsonntag. Es beginnt die letzte Woche der Passionszeit,
die Karwoche.
Der Schwabe Edward Mörike dichtete im 19. Jahrhundert:
0 Woche, Zeugin heiliger Beschwerde,
Du stimmst so ernst
zu dieser Frühlingssonne,
du breitest
im vergnügten Strahl der Sonne
des Kreuzes Schatten
auf die lichte Erde.
Eduard Mörike (1804 -1875) "Werke", Leipzig 1941, 2 Bände, Insel Verlag, Bd.1, S. 103
Für ihn wirft das Kreuz von Karfreitag einen Schatten auf die strahlenden Tage zuvor - und auf die leuchtenden Farben der sprießenden Natur.
De öfter ich mich mit dieser Geschichte beschäftige - vgl. Mt 21,1-8; Mk 11,1-10; Lk 19,28 - 38; Joh 12,12-19 - , umso stärker bewegen mich die Worte der Juden auf die Frage des Pilatus, was er mit Jesus tun solle - wenige Tage danach. Die Hohenpriester, die Ältesten und die mit ihnen sind, rufen "Hinweg mit ihm. Kreuzige ihn!" -Joh 19,15; vgl Mt. 27,22; Mk 15,13; Lk 23,23 - .
Ich denke daran, wie leicht Menschen beeinflußt werden können, wenn sie in großer Zahl zusammen sind. In meiner Jugend habe ich einige Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Zeit gemacht. Im Osten Deutschlands gab es noch bis in jüngste Zeit hinein Erfahrungen dieser Art. Mir steht immer noch ein Bild aus den Fernsehberichten über den Golfkrieg vor Augen: Mohammedanische Frauen mit ihren Kopftüchern recken die geballten Hände in die Höhe und rufen. Dem :Kommentar ist zu entnehmen, daß sie fordern, Israel mit Gas anzugreifen), Diese Frauen wüßten nicht, was sie taten. -
Ein Kritiker des Predigttextes weist darauf hin, daß die ersten Christen aus einem unscheinbaren Vorgang, Jesu Weg nach Jerusalem, einen triumphalen Einzug gemacht hätten - Wolfram Weisse in "Assoziationen", Band 1, Stuttgart.1978, 3,80 f -. Der Ritt auf dem Esel, die Rufe der Menge - nein, so sei es in Wahrheit nicht gewesen. Heute könnte die Kirche eigentlich auf diese Ausschmückung verzichten.
In der Tat: Jesus zu Fuß auf dem Weg in die Stadt, unbemerkt, umgeben von seinen Jüngern - damit wäre seine Botschaft nicht unglaubwürdig geworden. Unser Bericht ist aber kein Dokumentarbericht, sondern tatsächlich der lebendige Bericht über den Glauben der ersten Christen. Deshalb ist er aufgeschrieben worden, deshalb wird er verkündet und deshalb wird jedes Jahr von neuem über ihn gepredigt.
Jesus reitet auf einem Esel, dem Reittier des Friedenskönigs (Sacharja 9,9), und die Menge begrüßt ihn mit Worten, die einem König gelten, ursprünglich einem Befreier des Volkes vom Doch der Fremdherrschaft, der Israel in die Weltherrschaft einsetzt.
So arm und bescheiden ist der Einzug Jesu also nicht. Dia Festpilger gehen zu Fuß. Daß Jesus reitet, hebt ihn von den anderen ab, hebt ihn heraus aus den anderen. Sie sehen ihn. Der Esel als Reittier gilt tatsächlich als Gegensatz zum feurigen Schlachtroß - aber als . ein Zeichen der friedlichen Königsmacht ohne Krieg.
Die Christen der ersten Jahre bekunden mit diesem Bericht, daß sie an Jesu Auftrag in dieser Welt glauben und ihn ausstatten möchten mit allen Zeichen seiner Würde als Messias. Für sie gilt auch die jüdische Logik, daß Wunder die Zeichen Gottes sind, die Zeugnis für die Beauftragung von Menschen durch Gott ablegen. Deshalb ist es wichtig für sie, daß die Auferweckung des Lazarus in Betanien unter den Mensche die Jesu Einzug begleiten, bekannt wird und angemessen gewürdigt werden kann.
Wir leben heute In einer anderen Zeit. Können wir uns vorstellen, wie verschieden unsere Zeit heute von der Jesu und seiner Zeitgenossen ist? Mir ist erst bei der Vorbereitung dieser Predigt bewußt geworden, daß von der Zeit her wir weiter von Jesus entfernt sind - über 1990 Jahre vor Christi Geburt - als der Erzvater des jüdischen Volkes Abraham - etwa 1.900 Jahre vor Christi Geburt.
Wir gehen auf das Jahr 2000 zu und stehen vor einer Zeitwende.
Die Überzeugungskraft von Zeichen, und Wundern hat nachgelassen. Unsere Zeit ist geprägt von der Erkenntnis der Aufklärung, daß jedermann die Freiheit haben müsse, von seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen. Es mehren sich die Anzeichen, daß Industrie und Kapital ihre gesellschaftsprägende Kraft verlieren werden. Die Erwerbstätigkeit reicht nicht mehr aus, die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft tu bestimmen. Die einen sprechen vom postmodernen Zeitalter, die anderen vom Informations- und Medienzeitalter. Genaues weiß keiner.
Eines ist sicher, was früher als Ziel des Lebens eines Menschen ausreichte, das genügt heute nicht mehr. Kriege, Natur- und Finanzkatastrophen zerstören materiellen Wohlstand. Berufe verlieren ihr gesellschaftliches Ansehen, andere entstehen neu. Unser Wissen und Können veraltet schneller.
Es zeichnet sich immer deutlicher ab, daß es entscheidend darauf ankommen wird, wie wir Menschen miteinander umgehen und mit der Welt, in der wir leben.
Ein Amerikaner meinte, die seelischen Grundlagen unserer Gesellschaft müßten sich ändern. Nachdem Besitz, Wissen, Können und Leistung bisher die Gesellschaft geprägt hätten, müßte künftig die Fähigkeit zum Umgang miteinander, die Bereitschaft, aufeinander zu hören und einander zu «erstehen, die Sensibilität gegenüber anderen Menschen und der Schöpfung insgesamt entwickelt werden. Liebe empfangen und Liebe geben, Annehmen und Teilen, das seien die tragenden Eigenschaften des Menschen für die Zukunft. Der Amerikaner heißt Erich Fromm und sein Buch "Haben oder Sein" (Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. 1976. Stuttgart).
Ich muß daran denken, daß Jesu Botschaft eine Botschaft der Liebe ist, die hineingesagt ist in eine Welt voller Besitz- und Machtansprüche, Krieg und Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung. Sie wird bezeugt von Planschen, die nur diese Welt kennen und nur diese Sprache sprechen. Müssen wir uns dann tatsächlich wundern, wenn uns Jesus als König, als Sieger und Streiter für das Reich Gottes begegnet? Wir brauchen uns darüber nicht zu wundern, sollten aber durch diese zeitgebundene Sprache hindurch Jesu gelebte Botschaft seines Lebens und Sterbens - und seiner Auferstehung erkennen: Gott liebt uns über den Tod hinaus, er ist mitten unter uns, er begleitet uns in ein Leben danach.
Wir haben eben das Lied gesungen "Du großer Schmerzensmann ... laß deine Wunden sein die Heilung unserer Sünden, laß uns auf deinen Tod den Trost im Tode gründen". Für viele von uns ist es schwer, sich auf den Schmerzensmann" einzulassen. Mir geht der Bericht einer Frau nicht aus dem Sinn, die schreibt, daß ihre Begegnung mit Jesus geprägt sei von der Passionszeit, der Leidenszeit Jesu und ihr Verhältnis zum Christentum vom Kreuz, das für sie den furchtbarsten Ausdruck dieser Leiden und Qual darstellt. Das Kruzifix - ein Symbol des Schreckens! Das Kreuz wird zum Marterholz, zu einem Instrument der Schmach, der äußersten Erniedrigung! Ich weiß nicht, ob andere ebenso empfinden. Mir scheint aber durchaus, daß die Kreuze auf den Gräbern unserer Friedhöfe für viele Menschen eher ein Zeichen des Todes als des Lebens, eher ein Zeichen des Abschieds als ein Zeichen der Verbundenheit, eher ein Zeichen der Trauer als der Hoffnung sind.
Das Kreuz ist ganz sicher das Zeichen für die äußerste Grenze, an die Menschen in ihrem Erdenleben gehen können und oft geführt werden - die Grenze des zu ertragenden Leidens und die Grenze zum Tode.
Das Kreuz Christi aber ist Zeichen der Auferstehung - nach dem Weg durch die Leiden und über diese "äußerste Grenze hinaus. Es ist das Zeichen und Siegel der Liebe Gottes zu uns Menschen. Diese Botschaft aber geht oft Ober unsere Kraft hinaus.
Selbst die Jünger verstehen das erst spät, Johannes sagt "... als Jesus verherrlicht war." Die Wächter des Judentums sehen die Wirkung Jesu - und sie werden später ihre Konsequenzen ziehen.
Wir Christen haben heute eine große Chance: In einer sich wandelnden Welt können wir neue Formen der Verkündigung finden, die der Botschaft von der Liebe Gottes eher gerecht werden als die der Vergangenheit. Ich möchte nicht so weit gehen wie eine Gemeinde am Niederrhein, die das Kreuz aus dem Kirchenraum entfernte, weil es zu einem Zeichen der Qual und Unterdrückung, von Machtanspruch und Flachtausübung geworden sei. Aber ich möchte aufmerksam jenen Menschen zuhören, die verdeckte Seiten der biblischen Botschaft zu entziffern versuchen.
Jürgen Moltmann beginnt seine Kreuzestheologie mit einer "Theologie der Hoffnung", Dorothee Sölle vertritt den politischen Auftrag der Theologie und ist eine der vielen Frauen, die uns die Bibel mit den Augen einer Frau zu lesen lehrt - ihre Bücher "Stellvertretung" und "Leiden" sind wichtige Wegzeichen. Aus Lateinamerika erreichen uns Signale, die um die Welt gehen "Theologie der Befreiung" (Gustavo Gutierrez); "Jesus Christus, der Befreier" (Leonardo Boff). Hören wir also hin auf diese Botschaften von der Liebe Gottes und ihrer befreienden Kraft, die eigentlich die immer alte Botschaft, sind Jesu Leben, Tod und Auferstehung. Wenn wir das Hinhören gelernt und unsere Aufmerksamkeit geschärft haben, werden wir auch im alten Kleid der Bibel die neue Botschaft finden. Es ist tatsächlich eine Botschaft der Freude.
Es hat mich beschäftigt und anhaltend bewegt: Bei verschiednen Taufen in den vergangenen zwei Jahren haben Eltern immer wieder ein Lied gewünscht:
Danke für diesen guten Morgen ... danke, daß ich dein Wort verstehe ... danke, daß deinen Geist du gibst ...
Das letzte Mal war es im Januar dieses Jahres, drei Tage vor Ablauf
des Ultimatums gegenüber Saddam Hussein. Meine Frau meinte noch: "Sprich nicht vom Krieg. Das wird eine zu große Belastung für die Eltern." Ich habe vom Krieg gesprochen, ich habe auch davon gesprochen, daß dieser Krieg - wenn er ausbrechen sollte - die Ausmaße eines dritten Weltkriegs annehmen könnte. Den Taufeltern habe ich dann gedankt für die Wahl des Taufspruchs "...alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt"(Mk 9,23b) und für die Wahl dieses Liedes. Ich habe ihnen gesagt, daß ich wünschte, dieses Lied möge mit aller Fröhlichkeit und Dankbarkeit gesungen werden - an diesem Tag und an allen der kommenden Wochen und Monate, ja auch der Jahre - in Krieg und Frieden, in Not und Überfluß, in Krankheit und Gesundheit. Die Mutter hat sich nach dem Gottesdienst bei mir bedankt - ich weiß nicht, ob sie damit auch diese Worte meinte.
Von den Kirchenmusikern wird dieses Lied und sein Verfasser kritisch bewertet. Auch ich habe so meine Schwierigkeiten. Seit ich es aber mit den Augen und Ohren - vielleicht auch mit dem Herzen junger Eltern zu singen versuchte, ist es mir sehr vertraut geworden. Ich möchte, daß es zu einer Verbindung zwischen Kirche und jungen Menschen werde - zu einer lebendigen Verbindung.
Das Lied, das wir als letztes singen werden, bezeugt das segnende Handeln Gottes an uns Menschen. Sein Dichter, Jochen Klepper (1903 - 1942), hat es Pfingsten 1938 geschrieben - und für mich bleibt es verbunden mit dem letzten Tagebucheintrag. Klepper war ein sensibler, feinsinniger Mensch, der sich herzlich an allen schönen Dingen freuen konnte. Der Brutalität der nationalsozialistischen Herrschaft war er nicht gewachsen und schied im Dezember des Jahres 1942 gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und deren Kind aus erster Ehe freiwillig aus dem Leben. Er schreibt:
Wir gehen heute Nacht
gemeinsam in den Tod.
Über uns steht
in der letzten Stunde
das Bild des segnenden Christus,
der um uns ringt.
In dessen Anblick
endet unser Leben.
Jochen Klepper
"Unter dem Schatten deiner Flügel"
dtv 1207, München.2.A. 1983, S.1133
Dies ist kein Lebensschicksal, das jubeln läßt - aber Hoffnung und Trost geben kann. In Not und Verzweiflung dürfen wir Christus für uns, auch stellvertretend für uns eintreten lassen. Dazu war er hier auf dieser Erde.
"Freude unter dem Kreuz" - für den Christen ist das heute nicht das laute Jubeln, das Hosianna-Rufen, das morgen umschlagen kann in das "Nieder mit ihm! Kreuzige ihn!" Für den Christen ist die Freude unter dem Kreuz eine Freude, die vom Kreuz, vom strahlenden Kreuz her kommt, eine eher stille, aber sehr beständige Freude.
Darüber aber können wir nun wirklich froh sein und sollen uns gerade unter dem Kreuz freuen. "Jesu meine Freude ..." . Möge er uns immer wieder von neuem zur Freude werden! Amen.

Jesu Tränen - die Juden und wir

04./11.08.1991 - Israel-Sonntag 10./11. So n.Tr.
Vorbemerkung
Diese Predigt wurde am 04.08. in Leverkusen-Manfort und am 11.08. in Leverkusen-Wiesdorf gehalten (Matthäus-Kirche, Markus-Kirche). Am 04.08. - Israel-Sonntag - ist allerdings nach meiner Notiz der Gottesdienst ausgefallen. Weiteren Notizen entnehme ich, daß der Gottesdienst in Manfort am 18.08. 12. So. n. Tr, nachgeholt wurde und am 25.08.1991 als Vertretung in der Johanneskirche in Langenfeld ebenfalls gehalten wurde.
Kanzelgruß
Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Schon draußen vor der Stadt empfangen ihn die Menschen und feiern ihn als König. Pharisäer in Jesu Nähe fordern ihn auf, das zu unterbinden. Jesu Antwort: "Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien." (Lk 19,40) Was Lukas anschließend berichtet, ist der heutige Predigttext im Evangelium nach Lukas - Lk 19,41 - 48:
(41) Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie
(42) und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!
Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
(43) Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen,
(44) und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir
und keinen Stein auf dem anderen lassen in dir,
weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Herr, unser Gott,
wir wissen: Jerusalem ist heute überall auf der Welt. Wir bitten, öffne
unsere Ohren und Herzen, damit wir hören und im Innern verstehen, was
du uns sagst. Amen.

Jesus weint
- über die Menschen, die nicht erkennen, was zum Frieden dient, und deshalb verloren sind,
- über die Stadt Jerusalem, in der der Friede Gottes kein Zuhause findet und deshalb zerstört wird.
Auch unter uns sind Menschen, die weinen,
- über geliebte und vertraute Menschen, die ihren Frieden nicht finden in der Welt, aber auch über die Not fremder Menschen, die verhungern, verdursten, die Opfer von Verfolgung von Gewalt und Terror
sie weinen aber auch
- über die Schöpfung Gottes, die die Menschen oft auf so grausame Weise verletzen und zerstören, ja auch über die Völker die keinen Frieden finden.
Jesus weint:
Tränen der Trauer, der Ohnmacht, der verzweifelten Liebe. Jetzt ist er uns ganz nahe. Diese Tränen sind uns vertraut. - Sie hätten ihm besser zuhören können. Sie hätten das Wichtige nicht aus dem Herzen verlieren dürfen - die Menschen in Jerusalem. Gott hatte ihnen schon durch Mose zugerufen: "Höre, Israel ..., du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft"(5. Mose 6,5). und auch "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"(3. Mose 19,18).
Aber nein - sie glauben Gott am besten zu dienen, wenn sie möglichst viele Gesetze erfüllen und reichlich opfern. Wir würden heute vielleicht sagen, den Juden war ihr Glaube zu einer Frage von Recht, Ordnung und Geschäft geworden. Das Wesentliche war vergessen, in den Hintergrund gedrängt, aus dem Bewußtsein verdrängt.
Jesus ist auf seinem Weg - auf seinen letzten Weg in die Stadt. Ob er ahnt, was ihn» hier erwartet? Jedenfalls weiß er, daß die Verantwortlichen in Kirche und Staat der Juden nichts verstanden haben. Für sie war sein Wirken anscheinend vergebens. Jetzt steht er vor der Stadt. Am Abhang des Ölbergs hält er an und sieht die Stadt vor sich. Die Ausweglosigkeit des Lebens dieser Menschen dort bewegt und erschüttert ihn. Nur an dieser Stelle spricht die Bibel davon, daß Jesus weint. Jesu. Tränen sind aber auch Zeichen prophetischer Rede. Im Orient haben Tränen zeitweise geradezu rituelle Bedeutung. Hier zeigen sie das Verhängnis an, das Jesus voraussieht, und sie bekräftigen seine Worte: Feinde werden die Stadt belagern und sie mit allen Manschen zerstören als eine Strafe Gottes.
Jerusalem, eine der ältesten Städte im Vorderen Orient, das Zentrum des staatlichen und religiösen Lebens der Juden - immer wieder von neuem entstanden aus Trümmern, die Feinde verursacht haben -, diese Stadt soll nun von Gott her zerstört werden!
Jerusalem - so sagte ich - ist heute überall . Ich nenne aus unserer Zeit einige Namen: ... Oradour in Frankreich, • Coventry in England, Hamburg und Dresden in Deutschland, Stalingrad und Tschernobyl in Rußland, Bagdad im Irak - und immer wieder: Jerusalem! Es muß nicht eine Stadt sein. Wo Menschen leben, da leben sie von der Liebe Gottes her - und immer von neuem gehen sie in die Irre.
Manche tun sich schwer mit der Sonderrolle der Juden vor Gott. Vielleicht eröffnet auch ihnen folgende Überlegung einen Zugang zur biblischen Verkündigung: Könnte es nicht sein, daß Gott an Israel zeichenhaft für alle Menschen auf dieser Welt handelt? Ist es denn völlig ausgeschlossen, daß Gott das Volk Israel deshalb auswählt, weil es ein verhältnismäßig kleines Volk war, dessen Schicksale überschaubar erlebt und erfahren werden konnten, ein Volk auch, das in der Lage war, dem einen Gott zu folgen. Wäre es so, dann, würde Jerusalem an dieser Stelle stehen für alle Städte dieser Welt - und wo, so dürfen, ja müssen wir heute fragen, haben die Verantwortlichen in Kirche und Staat überall auf der Welt nach 2000 Jahren der Verkündigung der frohen Botschaft Jesu "erkannt, was dem Frieden dient"?
Erst in den letzten Jahren erlebten wir es. Gerade glaubten wir, hofften wir der Friede sei in Sicht, Menschen gingen aufeinander zu, Grenzen könnten ihre trennende Kraft verlieren - da erhob der Krieg sein grausiges Gesicht und wir bekamen eine Vorahnung davon, wie Kriege aussehen können.
In jedem Jahr um diese Zeit begeht die Evangelische Kirche in Deutschland - EKD - den "Israel-Sonntag", an dem sie in besonderer Weise des Verhältnisses von Juden und Deutschen gedenkt. In die Reihe jener Namen von Städten gehört auch Warschau und Auschwitz. Mit Recht wird immer häufiger die Frage gestellt, ob denn nicht einmal Schluß sein müßte mit der ständigen Erinnerung an den Massenmord der Deutschen an den Juden, ja die bewußte Vernichtung eines ganzen -Volkes. Am 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu dieser Frage gesagt: ... "Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. [...] Wer [...] vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. [...] Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben. "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist. Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Richard von Weizsäcker: Der 8. Mai 1945 – 40 Jahre danach, 8.5.1985 (http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Richard-von-Weizsaecker-,12166.629421/Rede-von-Bundespraesident-Rich.htm?global.back=/Reden-und-Interviews/-%2C12166%2C0/Reden-Richard-von-Weizsaecker.htm%3Flink%3Dbpr_liste)

Die Juden haben eine lebendige Erinnerung. Wir Deutschen - aber viele andere Völker auf der Erde ebenfalls - haben eine übermächtige Tradition der Verdrängung. Das jüngste Beispiel dafür ist die Auflösung der "Deutschen Demokratischen Republik".
Es ist so, nur über die Erinnerung kann die Liebe Gottes Kraft in uns gewinnen, damit wir der Gegenwart standhalten und Zukunft gestalten können - soweit uns beides als Aufgabe in unserem Leben entgegentritt. Diese Aufgabe der Erinnerung übernimmt der Psalmdichter, wenn er Gott anruft:
Herr, gedenke an deine Gemeinde, an den Berg Zion, auf dem du wohnst, gedenke an deinen Bund.
PS. 74,2
Und diese Aufgabe der Erinnerung übernimmt jede Predigt, jeder Gottesdienst - wenn wir in der Bibel lesen, auch dann erinnern wir uns. -
Als Jesus den Tempel betritt, vertreibt er die Händler. Er erinnert an den Kern des Lebens im Glauben ganz besonders der Juden: Beten! Das Reden mit Gott und von Gott gehört zum Glauben an Gott hinzu.
Wir haben heute Lieder gesungen, die davon reden. Wir werden anschließend singend um Gottes Segen bitten.
Aus der Erfahrung des Grauens von Auschwitz ist dem jüdischen Philosophen Hans Jonas die Erkenntnis erwachsen, daß der Gott der Juden nicht ein allmächtiger Gott ist, sondern ein gefährdeter Gott mit eigenem Risiko (Hans Jonas "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", Frankfurt/Main, Suhrkamp. st 1516. 3.A.1988, S. 33,32).

Wir kennen diesen ohnmächtigen Gott. In Jesus Christus ist seine Liebe zu den Menschen in die Welt gekommen und hat die Sünde der Menschen auf sich genommen. Er endet ohnmächtig am Kreuz. - Ist das sein Ende?

Von der Auferstehung Jesu als des Messias, der die Menschen befreit zum ewigen Leben, kann der jüdische Glaube nicht reden. –

In diesen Jahren kann eine Vorstellung die ganze Ungeheuerlichkeit des Lebens, Handelns und Sterbens Jesu deutlich machen: Jesus ist auch für Saddam Hussein auferstanden!
Verstehe, wer das mag! Aber der Glaube, der aus der Liebe kommt, erfährt Gottes Wirken in jedem seiner Geschöpfe.
Jesus Christus weint –
ein ohnmächtiger Gott,
ein ohnmächtiger Mensch ? –

Herr, unser Gott,
wir haben die Worte deines Sohnes gehört und das Zeugnis von seiner Botschaft. Gib uns Kraft, damit wir leben und handeln können für deinen Frieden in uns und in der Welt. Amen.

Kanzelsegen

Lieder
Gott des Himmels und der Erden ... EKG 345/EG 445 Nimm von uns Herr, du treuer Gott ... EKG 119/eg 146 Herr, wir bitten, komm und segne uns ... EKG 647/eg 607 In die Schuld der Welt ... EKG 647,2-5/eg 607, 2-4 Anmerkung zu EKG (« Evangelisches Kirchengesangbuch) galt bis 1996 in der Evangelischen Kirche im Rheinland - EKiR -. Die Lied-Nrn ab 557 stammen aus dem Beiheft'84 "Singt und dankt", Kassel, Bärenreiter. 1984.

Materialien
Edward Schweizer "Das Evangelium nach Lukas" in der Reihe "Neues Testament Deutsch" - NTD -, Band 3, Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht 18.A. 1982, S. 197 - 201 )

Fürbittengebet
Laßt uns den Herrn anrufen
um den Frieden und um unser Heil,
laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
um das Leben und die Ausbreitung der einen allumfassenden Kirche,
daß sie das Evangelium nach Gottes Wahrheit
unter allen Völkern gewissenhaft bezeuge,
in der Einheit des Glaubens und
in der Solidarität mit den Sündern,
zu denen wir alle gehören -
laßt uns den Herrn anrufen: Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
um den Frieden in der ganzen Welt,
um Gottes Segen für unsere Arbeit,
um gute Lebensbedingungen,
um das tägliche Brot für alle
und um Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt
laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
für die Begegnung zwischen Christen und Juden,
dass Vorurteile und Mißtrauen überwunden werden
und neues Vertrauen wächst:
Laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
für die Menschen im Nahen Osten,
Juden, Christen und Muslime,
daß jeder für das Recht des anderen eintritt, daß sie füreinander nach Gerechtigkeit suchen
und miteinander in Frieden leben, laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Zusatz/Ergänzung am 25.08.1991:
Laßt uns den Herrn anrufen
für die Menschen überall im russischen Land
und ihre Nachbarn,
daß die Bedrohung des Friedens nachhaltig beseitigt
und die freiheitlichen Kräfte nachhaltig gestärkt werden.

Laß Mut und Hoffnung weiterhin wachsen unter ihnen und die Kraft für einen
neuen Anfang des Lebens in Staat und Gesellschaft, der auch der Liebe wieder Raum gibt.
Laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!
Laßt uns den Herrn anrufen
für alle Flüchtlinge und Minderheiten in der Welt,
insbesondere für die Menschen in Jugoslawien,
daß aller Rassenhaß
und alle Menschenverachtung aufhören,
damit die Welt sehen kann,
daß Gott alle Menschen liebt,
laßt uns Gott anrufen:
Herr, erbarme dich!

In der Stille bringen wir vor Gott was uns bewegt - - -
Mit den Worten Jesu beten wir
Vater unser ...

Samstag, 7. Februar 2009

Wenn die Kirchenglocken das letzte Mal läuten ...

18.12.1983

4.Sonntag im Advent

Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Als Predigt hören wir heute aus dem Buch des Propheten Jesaja Kapitel 52, die Verse 7 bis 10 in Luthers Übersetzung:
(7) Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten,
die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen,
die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!
(8) Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander;
denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion
zurückkehrt.
(9) Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems;
denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.
(10) Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.

Lieber himmlischer Vater,
dein Prophet hat zu uns gesprochen und wir wissen, daß sein Ruf die Wahrheit verkündet. Ja, du bist König, du hast uns getröstet, du hast dich in Jesus Christus den Menschen überall in der Welt offenbart. In dieser Zeit des Advent, in der wir in der Erwartung deines Sohnes leben, treten wir vor dich hin, um dein Wort der Verkündigung zu hören. Öffne unsere Ohren und Herzen, damit wir verstehen und annehmen was du uns sagst. Amen.

Vor knapp einer halben Stunden verhallten die letzten Glockenschläge, mit denen wir aufgerufen wurden, uns hier zu versammeln. Nicht nur zur Versammlung rufen die Glocken, sondern auch zur Sammlung. Wissen wir, wie viele Menschen, die den Weg zur Kirche nicht gefunden haben – vielleicht, weil sie die Gemeinschaft der anderen fürchten, also, weil sie einsam sind, oder weil sie krank und gebrechlich ans Bett oder an die Wohnung gefesselt sind - wissen wir, wie viele Menschen beim Klang der Glocken still werden?
Ich weiß es nicht, müßte mich aber sehr wundern, wenn es nicht eine ganze Reihe von Menschen gäbe, die das tun. Vielleicht lesen oder singen sie ein Lied aus dem Gesangbuch, lesen einen Text aus der Bibel und wenden sich im Gebet an Gott.
Der Klang der Glocken ist nicht nur ein Aufruf und ein Anruf, er ist auch ein Zeugnis: Seht, hier ist Gottes Haus und es behauptet sich gegen alle Versuche, der Verbindlichkeit seines Wortes zu entgehen und in die Welt hinein zu entfliehen!
Die Kirchenglocken, unsere Kirchenglocken, sind also
- ein Anruf an uns alle, Gott zu hören,
- ein Aufruf, seinem Wort zu folgen, sich unter seinem Wort zu versammeln, zu ihm zu beten, ihm zu danken
- das Leben unter sein Wort zu stellen,
- eine Einladung an alle, teilzuhaben an der Gnade seiner Vergebung, indem wir ihm nachfolgen und
- ein Zeugnis für Gottes Wirken in der Welt. -

Vielleicht wissen Sie jetzt, weshalb ich heute mit diesem Gedanken an die Kirchenglocken begonnen habe. In der Leverkusener Ausgabe ein Kölner Tageszeitung hat man in der vergangenen Woche öffentlich darüber nachgedacht, ob dies das letzte Weihnachtsfest ist, zu dem die Glocken der Paulus-Kirche in Leverkusen-Wiesdorf läuten (Kölnische Rundschau vom 13.12.1983).
Sie wissen, weshalb das Presbyterium Ihrer Gemeinde darüber nachdenkt, wie die beiden Kirchenzentren Ihres Pfarrbezirks langfristig genutzt werden sollen. Die sinkende Zahl der Gemeindeglieder und sinkende Steuereinnahmen führen in Verbindung mit steigenden Kosten dazu, daß auch ungewohnte und schmerzliche Entscheidungen in Erwägung gezogen werden müssen.
Wenn wir uns heute hier zusammenfinden, dann beschäftigt uns die Frage nach dem Schicksal des Gemeindezentrums sehr. Der Kirchenraum ist so warm und anheimelnd, Pfarrwohnung und Gemeinderäume liegen dicht bei einander. Und die Glocken dieser Kirche sagen ja noch etwas mehr. Sie künden von dem Standort einer Kirche direkt am Rhein in unmittelbarer Umgebung eines expansiven Industrieunternehmens. Wer von uns Pfarrer Wamsers Einsatz für ein menschengerechtes Wohnen in seinem Pfarrbezirk in Wiesdorf miterlebt hat, der weiß, daß mit dem Standort dieser Kirche mehr verbunden ist als ein beliebig austauschbarer Treffpunkt, ein Haus Gottes, das auch an anderer Stelle ebenso stehen könnte wie hier. In der Paulus-Gemeinde ist in den vergangenen Jahren einiges geschehen, das wichtig war - wichtig für die Menschen, die hier wohnen, wichtig für den Stadtteil Wiesdorf, wichtig für die ganze Stadt Leverkusen - und die Paulus-Kirche, das Gemeindezentrum der Paulus-Gemeinde, war ein Kristallisationspunkt, an dem sich die Verantwortung der Christen erweisen sollte, Verantwortung vor Gott für seine Umwelt, für die Welt, in der er lebt, zu übernehmen.
Wo ist in dieser Lage nun der Bote, der Frieden und Heil verkündet, der hier Gutes predigen könnte?
Machen wir uns klar, in welcher Lage das Volk Israel war, als der Prophet ihm diese Worte zurief. Jerusalem war von seinen Feinden zerstört worden. 4.600 Menschen wurden in die Gefangenschaft nach Babylon gebracht. Heute schätzt man, daß es insgesamt 12.000 bis 15.000 waren. In der Fremde konnten sie sich ein eigenes Leben, eine eigene Existenz aufbauen. Ihr Glaube an die Allmacht JAHWES, ihres Gottes, war erschüttert. Viele nahmen aufmerksam zur Kenntnis, welcher Art die vielen anderen Gottheiten waren, die in Babylon verehrt wurden. Viele - vielleicht fast alle - hatten die Hoffnung aufgegeben nach Palästina zurückzukehren.
Da tritt der Prophet auf und öffnet ein Fenster, das den Blick auf die freie Heimatstadt Jerusalem freigibt. Er spricht von der Allmacht Gott und davon, daß Gott sein Volk nicht aufgegeben habe. Ja, er verkündet die Rückkehr der in der Verbannung lebenden Juden und ein neues Reich. Der Prophet spricht zu Juden, denen es materiell erträglich bis gut geht, deren Glaube aber an Kraft rapide verloren hat. Ihnen ruft er zu daß Gott der Juden König sei, daß er nach Jerusalem zurückkehren wird, daß er sein Volk tröstet, Jerusalem erlöst und vor aller Welt sichtbar werden läßt, daß er dieses Volk zum Heil führt. In großer Glaubensschwäche, Nachlässigkeit in Glaubensfragen und bei wachsender Neigung zur Abkehr vom alten Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, wird dem Volk ein Prophet gegeben, der mit bezwingender Kraft den Sieg Gottes verkündet.
Hier wird deutlich, daß die verdunkelte Gegenwart durchdringend erhellt werden kann durch die Gewißheit, daß die Zukunft den Sieg des Lichtes bringen wird. Dein Gott ist König. Was bedeutet das für die Juden, die in der Zeit des Propheten lebten? Sie werden erinnert an die Einmaligkeit ihres Väterglaubens, in dem es nur einen Gott gibt - andere Religionen kannten ganze Götterfamilien oder gar Göttervölker.
Dein Gott ist König. Das bezeugt aber nicht nur die Einmaligkeit, sondern auch die Allmacht Gottes. Der Juden König steht über allem - er beherrscht die Welt als eine Schöpfung. Dein Gott ist König. Mit diesem Wort wird gleichzeitig gesagt, daß alle Welt diesem Gott, diesen König untertan ist: Alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.
Der Prophet nimmt die Zukunft vorweg und stellt fest, daß der Gott der Juden seine Macht, sein Heil vor der ganzen Welt erwiesen hat. Das Exil der Juden war beendet, der von Nebukadnezar zerstörte Tempel wurde wieder aufgebaut - neu aufgebaut. Vor dieser Zukunftsperspektive kann der Prophet seinem Volk zusichern, daß der Herr sein Volk tröstet und Jerusalem erlöst. Seid fröhlich und rühmt miteinander die Herrlichkeit Gottes! Dies ist nun die Aufforderung, die aus der Gewißheit folgt, daß Gott König ist, daß er sein Volk in die Heimat zurückführt und daß er sein Haus, den Tempel, aufbauen läßt. Jetzt wird erklärlich, daß unsere Textstelle mit dem Bericht über die Freudenboten beginnt, die Frieden verkündigen, Heil verkünden und Gutes predigen.
Für den heutigen Tag sind als Lesung vor dem Altar zwei Textstellen vorgeschlagen worden, von denen wir den Bericht aus dem Evangelium nach Lukas gehört haben. Maria besucht Elisabeth und wird begrüßt mit den Worten: 0 selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist, von dem Herrn - Lukas 1, 41-45. Wenige Verse zuvor ist gesagt, "dein Sohn wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich" - Lk 1, 33 -.
Die zweite Stelle finden wir in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper. Dort heißt es: "Freut euch in dem Herrn allewege und abermal sage ich euch: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! - Phil.4, 4-7 -.
In allen drei Stellen wird Gottes Kommen angekündigt
- vom Propheten des Alten Bundes im babylonischen Exil der Juden,
- von der Freundin Maria zur Zeit Jesu und
- von Paulus, der nach Jesu Tod und seiner Bekehrung zum Christen
annahm, der jüngste Tag stehe unmittelbar bevor.

Vierter Advent 1983 - sind wir nun diese Freudenboten, von denen der Prophet spricht? Ist das ein Datum, zu dem auch wir das Kommen Gottes ankündigen können? Können wir - wie Jesaja - sagen, daß der Herr zurückkehrt? - Wir wissen, daß Gott Mensch wurde und für uns in den Tod ging. Gott ist zurückgekehrt. Sind wir uns bewußt, daß Gott unter uns ist? Wir dürfen manchmal daran zweifeln. Nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch der Umgang miteinander und der Umgang mit Gottes Botschaft lassen gelegentlich erkennen, wie schwer wir es damit haben, Gott bei uns eine Heimat zu geben. Wir brauchen nur an die Botschaft der Freudenboten zu denken.
Wird in unserer Zeit Frieden verkündet? - Der Frieden ist unserer Welt nicht näher gekommen. Die Vernichtungskräfte in der Hand des Menschen gewinnen ungeahnte Ausmaße. Doch allmählich haben nicht nur immer mehr Menschen die Einsicht, daß Frieden auf der Welt nur dann auf Dauer möglich sein wird, wenn jeder von uns friedfertig mit dem anderen umgeht, sondern dieses Ziel ist auch an die Spitze der meisten politischen Zielkataloge getreten. Die Friedensbotschaft im Advent 1983 kann nicht verkünden, daß der Friede gesiegt und auch die Welt der Menschen erfaßt habe. Aber sie zeigt den Weg und das große Gewicht des Friedens für jeden von uns auf.
Heil verkündigen und Gutes versprechen - auch das fällt schwer im Jahre 1983. Der Herr ist nahe - nicht nur im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt, sondern auch im Jahre 1983? Das ist doch die Botschaft des Advent! Gott ist Mensch geworden. Was der Prophet nicht aus eigener Anschauung wissen konnte, das ist doch geschehen! Warum fällt es uns Menschen nur so schwer, die Fülle der Gnade, des Friedens und des Heils zu erfahren und weiterzugeben, die dieses Ereignis gebracht hat? Wir wissen zwar - anders als Paulus -, daß wir den jüngsten Tag nicht in irdischen Zeitmaßstäben erwarten können, aber wir dürfen doch gewiß sein: Der Herr ist nahe, Gott ist Mensch geworden! So sind auch wir aufgefordert, Frieden zu verkündigen, Heil und Gutes in der Welt zu verbreiten, wo es uns möglich ist, fröhlich miteinander zu sein und Gottes Gnade zu loben. Auch uns hat Paulus zugerufen, daß wir unsere "Lindigkeit kund sein lassen allen Menschen" - "unsere Lindigkeit", ein anderer Übersetzer spricht von "Güte" - (Gerhard Friedrich, NTD 8, 5.166). Wir sollten uns fragen, ob wir gütig sein können.
Vierter Advent 1983 - wird es der letzte Advent in der Paulus-Kirche sein? Wir wissen es wohl nicht. Es ist gewiß gut, dieses Haus Gottes und seine Bedeutung für die Menschen in Wiesdorf sorgfältig zu prüfen - auch das, was als Alternative für andere mögliche Nutzungen erwogen wird. Sicherlich ist da jeder aufgerufen, mitzusorgen, mitzudenken und auch mitzutragen, was dann entschieden werden muß. Dennoch sollten wir daran denken, daß unsere Häuser und Türme vergänglich sind und äußere Formen, bleiben. Ihrer Sinn und Inhalt gewinnen sie erst durch das, was in ihnen und mit ihnen geschieht. Das galt und gilt auch für die Paulus- und die Christus-Kirche in Leverkusen-Wiesdorf.
Die Adventsbotschaft des vierten Advent 1983 dringt also durch diese äußere Formenwelt hindurch und trifft den Kern unseres Lebens. Hier ist aber wohl jeder Anlaß, sich zu freuen, zu jubeln und zu jauchzen. Sonderbarerweise fällt uns das immer wieder schwer. Unsere eigene Natur belastet uns mit den eigenen Vorbehalten, mit unseren eigenen Fehlern und Nöten ebenso wie mit denen der anderen. Oft scheint es, als gäbe es keine Freude in unserer Welt.
In diese Trübsal und Resignation hinein ruft nun der Prophet: Dein Gott ist König. Das heißt, dein Gott überwindet alle Schwierigkeiten dieser Welt. Vertraue dich ihm an! Er kommt zu dir und tröstet dich in aller Not, er weiß auch einen Weg für dieses Kirchengebäude. Deshalb seid fröhlich und lobet Gott. Der Herr ist nahe!
Mit allen Dingen sollen wir zu ihm kommen. Ist uns das immer deutlich und nutzen wir diese Möglichkeit? Wir dürfen uns frei machen von dem, was uns belastet. Gott hat es in Christus auf sich genommen. Dafür können und wollen wir ihm danken.
Möge uns Gott, der Herr, die Kraft des Glaubens schenken, ihn und seine Gnade anzunehmen, wie Maria es tat! Dann wird für uns zur Erfahrung, was Elisabeth ihrer Freundin voraussagte: "0 selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn."

Lieber himmlischer Vater,
unsere Kraft reicht nicht aus, dir zu folgen und die befreiende Macht der Geburt deines Sohnes hier in unserer Welt in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Wir brauchen dazu deine Hilfe und bitten dich, laß uns in den kommenden Weihnachtstagen Mut und Kraft wachsen, dem Frieden in der Welt zu dienen und für das Heil, das du verkündest, mit frohem Herzen einzutreten. Amen

Kanzelsegen
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unsern Herrn! Amen.

Lieder:
- "Macht hoch die Tür ..." EKG 6/EG 1
- "Nun jauchzet all ihr Frommen ..." EKG 7/EG 9
- "Dankt, dankt dem Herrn, jauchzt volle Chöre ..." EKG 466/EG 630
- "Wunderbarer König ..." EKG 235/EG 327

Materialien:
Westermann, Claus: "Das Buch Jesaja. Kapitel 40 bis 66" Göttingen.4.A.1981, S. 201 - 203 - ATD 19 -
Friedrich, Gerhard: "Der Brief an die Philipper" (4,4-7) Göttingen.5.A. 1981. S. 166 - 172 - NTD 8 -
Schweizer, Eduard: "Das Evangelium nach Lukas" (1,39 - 45) Göttingen.18.A. 1982, S. 21 - 23 - NTD 3 -
Mai, Hans: "Läuten Glocken zur Weihnacht letztmals? Es geht um den Verkauf des evangelischen Gotteshauses" in "Kölnische Rundschau" vom 13.12.1983

Helmut Böhme/Leverkusen