Dienstag, 22. September 2009

Prüfstein für den Glauben

30.12.1984 1. Sonntag nach Weihnachten

Predigttext aus dem Evangelium nach Lukas in der Einheitsübersetzung der katholischen und evangelischen Kirche:
Lk 2, 25 - 39
(25) In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm.
(26) Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe.
(27) Jetzt wurde er vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war,
(28) nahm Simeon das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten:
(29) Nun läßt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
(30) Denn meine Augen haben das Heil gesehen,
(31) das du vor allen Völkern bereitet hast,
(32) ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.
(33) Sein Vater und seine Mutter staunten über die Worte, die über Jesus gesagt wurden.
(34) Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.
(35) Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.
(36) Damals lebte auch eine Prophetin namens Hanna, eine Tochter Penuels aus dem Stamm Ascher. Sie war schon hochbetagt. Als junges Mädchen hatte sie geheiratet und sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt;
(37) nun war sie eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie hielt sich ständig im Tempel auf und diente Gott Tag und Nacht mit Fasten und Beten.
(38) In diesem Augenblick nun trat sie hinzu, pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Lieber himmlischer Vater, dein Sohn ist Mensch geworden. Wir wissen das - und dennoch wissen wir es nicht. Sei du bei uns in dieser Stunde und laß uns erfahren, was die Ankunft deines Sohnes für jeden von uns bedeutet. Amen.
Das Weihnachtsfest liegt hinter uns. Der 24., 25. und 26. Dezember 1984 - diese Tage sind vergangen. Ist auch die Botschaft vergangen, die in den Worten der Einheitsübersetzung lautet: Heute ist euch der Retter geboren ... Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade (Lk. 2, 11, 14) ?
Vergangen ist diese Botschaft nicht. Sie lebt seit fast 2.00C Jahren unter den Menschen -und auch heute lebt sie in uns allen. Wir wären sonst nicht hier. Sie hat die Welt erhalten zum heutigen Tag. Das ist meine Überzeugung. Gewiß, wir Menschen haben diese Botschaft oft mißbraucht - aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft gemacht (Walter Jens "Assoziationen", Bd.1, Stuttgart. Radius.1976, S. 7). Im Namen Jesu Christi wurde gemordet und Terror in der Welt verbreitet. Zugleich aber ist die Liebe, wie Jesus sie verkündet hat, zu einer Weltmacht geworden, die niemand mehr leugnen kann, die auch niemand mehr einfach übergehen kann - mit der jeder rechnen muß.
Unsere Geschichte von Simeon und Hanna schließt an die Weihnachtsgeschichte an. Die Botschaft der Weihnachtsgeschichte lautet in der für uns ungewohnten Fassung der Einheitsübersetzung: " ... Heute ist euch ... der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr (Lk 2,11). ... Verherrlicht ist Gott der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade (Lk 2,14)."
Wir werden nach den Wirkungen dieser Botschaft fragen.
Die für mich zentrale Stelle unseres Predigttextes ist das Zeugnis des Simeon:
Nun läßt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie dein Wort es verheißen hat, denn meine Augen haben das Heil geschaut, das du geschaffen hast, damit alle Völker es sehen: ein Licht, das die Heiden erleuchtet und eine Verherrlichung deines Volkes Israel.
Wie kommt Simeon dazu, dies von dem kleinen Jesuskind zu sagen? Der Geist hat es ihm offenbart. Das soll heißen, Gott, der Herr, hat ihm den Blick für das Wesentliche geöffnet. Mehr noch: Simeon bezeugt, was er sieht. Die Eltern des Jesuskindes staunen über diese Worte. Sie können nicht verstehen, was Simeon meint. Simeon erkennt das, und er wendet sich an Maria, an den Menschen, der dem Jesuskind am nächsten steht. Er sagt über dies Kind geheimnisvolle Worte: In Israel sollen viele durch Jesus zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden. Jesus wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Durch dieses Zeichen werden die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. -
Wir wissen, wer durch Jesus zu Fall kommen wird. Das sind jene Menschen, die ihre Kraft und Macht aus dieser Welt ziehen.
Wir wissen, wofür Jesus ein Zeichen ist: Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat (Joh. 3,16). Für diese Liebe ist Jesus ein Zeichen - ein Zeichen aus Fleisch und Blut, ein Zeichen aus Liebe, Not, Leid und strahlendem Sieg. Ich meine, Jesus ist mehr als ein Zeichen. Er ist der Beweis der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, zu den Menschen. Mit Jesu Ankunft bezeugt Gott diese Liebe. Er bestätigt sichtbar, hörbar und für alle erkennbar diese Liebe. Durch dieses von Gott gesetzte Zeichen werden die Gedanken der Menschen offenbar. An Jesus scheiden sich die Geister der Menschen. Die einen verfolgen, die anderen verehren ihn. Jesus ist der Prüfstein für den Glauben der Menschen an Gott.
Und dann der letzte, der Satz, der Maria treffen wird: "Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen". 'Jas meint Simeon damit? Will er Maria darauf vorbereiten, daß ihr Sohn Jesus sie in den letzten Jahren seines Lebens verlassen und sich anderen Menschen zuwenden wird? – Wer von uns eigene Kinder hat aufwachsen sehen und als Mutter oder Vater hat begleiten können und dann erlebte, wie sich diese Kinder von ihren Eltern lösten und ihren eigenen Lebensweg einschlugen, der könnte eine Ahnung von dem haben, was hier das Schwert bedeuten könnte, das durch die Seele der Mutter Maria gehen soll.
Jesus wird in seinen letzten Lebensjahren ein ganz anderes Leben führen als seine Eltern es sich vorstellen konnten.
Ich glaube aber, Simeon meint das andere - das Ende Jesu in Leiden und grenzenloser Verzweiflung, den Tod eines Verbrechers am Kreuz und dann die Auferstehung und die Verherrlichung des auferstandenen Christus. Das ist eine Erfahrung, die eine Mutter nur mit äußerstem Schmerz erleben kann. -
Simeon wird uns als fromm und gerecht geschildert. Er ist also jemand, der sich ganz dem Glauben an Gott zugewandt hat. Deshalb wartet er auf die Rettung Israels. Erinnern wir uns der Worte der Verheißung: "Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht ... uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seinen Schultern. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende (Jes. 9, 1,5 + 6)." "...Aber du, Bethlehem-Efrata ... aus dir wird einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll (Micha 5,1)."
Viele Zeitgenossen des Simeon warten wie er auf die Rettung Israels. Aber sie läßt auf sich warten. Simeon wartet geduldig - und ihm offenbart Gott durch den Heiligen Geist, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Auf diesen Augenblick lebt Simeon hin. Nun ist er gekommen. Niemand - auch die Eltern des Kindes nicht - kann in diesem Kind etwas Besonderes sehen. Gewiß - die Ankündigung der Geburt Jesu, die Anbetung im Stall von Bethlehem, das alles sind Zeichen des Besonderen gewesen. Die Eltern aber verstanden sie nicht.
Simeon spricht die Aufgabe Jesu in dieser Welt aus: Jesus ist das Heil Gottes für alle Völker. Gott hat dieses Heil vor allen Völkern bereitet. Für uns scheint das selbstverständlich zu sein. Aber weder zu Jesu Zeiten noch zu unseren Zeiten ist das selbstverständlich. Zu allen Zeiten gab es Randgruppen der menschlichen Gesellschaft, Arme und Schwache, Asoziale, Kranke, Farbige oder Andersgläubige, politische Gegner oder auch politische Rivalen aus dem eigenen Lager - die von Christen, die im Besitz der weltlichen Macht sind, so behandelt werden, als sei Jesus Christus nur zu den Mächtigen dieser Welt gekommen und habe nur sie von ihren Sünden erlöst. Dabei sollen alle Völker - und das heißt zugleich: alle Menschen - das Heil sehen, das in Christus auf die Welt gekommen ist.
Zugleich soll Christus das Licht sein, das die Heiden erleuchtet. Den Gottfernen wird Gott nahe gebracht. Sie werden durch das Licht, das mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist, auf den Weg zu Gott geleitet.
Nach Simeon tritt nun Hanna herzu und auch sie, die Greisin, bezeugt die Sendung Jesu.
Diese Zeugnisse sollten für uns wichtig sein. Sie zeigen uns nämlich, daß Jesus von seiner Geburt an von Glaubenszeugen als Gottes Sohn erkannt worden ist. Das Kind wird zum Heil der Welt.
Können wir daran noch glauben, nahezu 2.000 Jahre nach Christi Geburt und angesichts der Gefahren, mit denen wir Menschen Gottes Natur zu zerstören drohen - durch Verschwendung und Zerstörung der Natur um uns herum, durch Massenvernichtungsmittel bisher nie gekannten Ausmaßes? Verliert nicht gerade das Leben der jungen Menschen unter uns vor diesem Hintergrund Ziel und Richtung? Verlieren nicht wir alle die Hoffnung auf eine bessere Welt?
Dies Bild ist nur die eine Seite unseres Lebens - und es ist die Seite, mit der wir der Unvollkommenheit dieser Welt angehören. Ist es nicht so, daß auch wir unsere Umwelt zerstören, daß auch wir Christen Aggressionen gegenüber unseren Mitmenschen haben?
Es gibt auch die andere Seite: Liebe, Mitleid, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Demut, Dankbarkeit - und glaubensstarke Zuversicht, daß wir trotz allem in Gottes Hand sicher leben können. Vielleicht ist diese Sicherheit eine andere, als wir sie uns vorstellen. Aber Gott ist eben doch ganz nahe bei uns. Er ist zu Weihnachten ein Mensch geworden wie wir - und er hat uns erlöst von der Verlorenheit an die Welt, in der wir leben. Durch ihn haben wir die Gewißheit: Wir sind Gottes K inder.
Ob wir jetzt mit Simeon sagen können, daß wir in Frieden scheiden können? Ich weiß nicht, ob es möglich ist. Wir sind nicht Simeon und wir sehen Gott und die Welt anders als er.
Aber eines kann uns das Zeugnis des Simeon zeigen: Mit Jesus Christus ist das Heil in die Welt gekommen. Wir können lernen, es zu sehen und zu erkennen.
Versuchen wir, mit den Augen des Simeon in Jesus Christus das Heil dieser Welt zu erkennen! Versuchen wir, unser Leben aus dieser Erkenntnis heraus zu führen! Die Welt, in der wir leben ist nicht verflucht und verdammt. Wir sind nicht verlassen und unseren eigenen Zerstörungskräften nicht hoffnungslos ausgeliefert.
Daß wir hier sind - das allein ist schon ein Zeichen der Hoffnung. Daß in Köln so viele Menschen unter dem Zeichen des Kreuzes zueinander finden - über alle nationalen Grenzen hinweg -, das ist ein Zeichen der Hoffnung.
Lassen Sie uns alle dazu beitragen, aus vielen Zeichen und Stationen der Hoffnung, der Liebe und des Friedens den Weg des Heils in Jesus Christus aufscheinen zu lassen. Möge uns Gott, der Herr, dazu verhelfen!
Lieber himmlischer Vater,
dein Wort hat uns nachdenklich gemacht. Es ist gut, daß wir dein Wort hören können und daß es Zeugen wie Simeon gibt. Wir danken dir. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Materialien:
Text: "Die Bibel" - Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. HERDER. Freiburg. Basel. Wien. 1980
Kommentar: Schweizer, Eduard "Das Evangelium nach Lukas" Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.1962, S.36-40 - NTD Bd. 3
Predigthilfen:Voigt, Gottfried "Der schmale Weg. Homiletische Auslegung der
Predigttexte. Neue Folge: Reihe I" Göttingen.1978.S.59-65
Rendtorff, Rolf in "Assoziationen", Bd. 1, herausgegeben von Walter Jens Stuttgart. 1978. S. 27 - 28
Sonstiges: Brico, Rex "Taize. Frère Roger und die Gemeinschaft". Freiburg.1979. 240 S.

Anmerkung:
Am 30.12.84 nahmen Gäste aus Ludwigshafen und Spanien am Gottesdienst teil, die bei Gemeindegliedern und im Gemeindesaal übernachteten. Sie nahmen am "Taize-Treffen" vom 28.12. bis 01.01. in Köln teil.