Sonntag, 25. Januar 2009

Ämter in der Kirche

Gottesdienst 23.05.1994 Leverkusen-Manfort (Pfingstmontag)

EKG 105, 1,5-8 Zeuch ein zu deinen Toren
EKG 102, l -4 Freut euch ihr Christen alle ...
EKG 206, 1+2, 4+5 Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herrn
EKG 208, 1-4 Ach bleib mit deiner Gnade

Jauchzet dem Herrn alle Welt!
Dienet dem Herrn mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!
Erkennt, daß der Herr Gott ist!
Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.
Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, zu seinen Vorhöfen mit Loben; danket ihm, lobet seinen Namen!
Denn der Herr ist freundlich, und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für.
PS. 100

Kollektengebet
Allmächtiger Gott,
du hast deine Jünger mit dem Geist des Friedens beschenkt, den die Welt nicht geben kann. Wir bitten dich: erfülle alle, die an dich glauben, mit demselben Geist, daß sie Boten und Bringer des Friedens werden, - durch Jesus Christus, unsern Herrn.
nach Hintze "Kollektengebete" Berlin 1977S. 64 Nr. 3
Lesung
Wir hören das Evangelium zum heutigen Pfingstmontag nach Matthäus im 16. Kapitel
Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, daß der Menschensohn sei?
Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten.
Er fragte sie: Wer sagt denn ihr, daß ich sei?
Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!
Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn, denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.
Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.
Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.
Mt. 16, 13-19
Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren Halleluja!
Predigt
Der Predigttext für Pfingstmontag steht in diesem Jahr im Brief an die Christen in Ephesus.
Man weiß nicht genau, wer ihn geschrieben hat - aber er ist im Gefängnis geschrieben worden. Der Verfasser will die Christen draußen in der Welt begleiten und ihnen helfen, den Weg zu Gott nicht zu verlieren.
Im ersten Teil des Briefes berichtet er über die Grundtatsachen des christlichen Glaubens. Im vierten Kapitel spricht er dann von der Einheit im Geist und der Vielfalt der Gaben. Er ermahnt die Christen, die Einigkeit im Geist zu wahren durch das Band des Friedens - ein Leib, ein Geist verbindet uns und ein Gott und Vater aller.
Dann fährt der Schreiber des Briefes mit den Versen des heutigen Predigttextes fort.
Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus. (Eph. 4, 11-15) »
Lieber himmlischer Vater,
wie ist das möglich - wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen zu dem hin, der das Haupt ist -
dein Sohn Christus?
Wir erleben auf dieser Erde und unter uns immer wieder von neuem, dass das daneben geht.
Hilf du uns.
Amen
„Gott hat Menschen verschiedene Aufgaben gegeben, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes.“ (Eph. 4,11 f)
Damit wir, die Christen, die Menschen, die an Gott glauben, für den Dienst zugerüstet, das heißt vorbereitet werden, deshalb hat Gott bestimmte Aufgaben unter uns verteilt. Je nach unseren Gaben und Möglichkeiten können wir uns gegenseitig helfen auf dem Weg zu Gott.
Nichts anderes nämlich ist gemeint, wenn der Schreiber davon spricht, daß "der Leib Christi erbaut werde". Die Menschen, die in der Nachfolge Christi leben, erfüllen diese Erde bereits mit dem Geist der Liebe und Versöhnung. Niemand soll überfordert werden - und doch sollen wir in aller Vielfalt unserer Möglichkeiten den einen Weg zu Gott, die lebendige Liebe zwischen ihm und uns und deshalb untereinander hier in der Welt nicht verfehlen.
Wir alle gelangen dann zur Einheit des Glaubens und zur "Fülle Christi", das heißt, zur umfassenden Liebe, die niemanden und nichts ausschließt und sich ganz auf den einen Gott verläßt.
Das alles geschieht, damit wir nicht vom Winde hin und her bewegt werden, willenlos jedem Windhauch folgend und ausgeliefert jedem Wetterwechsel - oder schlimmer noch, damit wir nicht Teil des trügerischen Spiels der Menschen werden, die einander betrügen, um ihre Ziele zu erreichen. Teil dieses Spieles werden wir dann, wenn wir Opfer der Betrügereien, aktive Mitspieler oder auch nur ahnungslose Akteure sind.
Ein großer deutscher Philosoph, Immanuel Kant hat einmal aufgeschrieben, was er unter Unmündigkeit versteht. "Unmündigkeit", so schreibt er, "ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" (1793). Ich wiederhole den Satz so, wie er ihn formuliert hat, weil die Überwindung der Unmündigkeit in unserer Zeit von besonderer Wichtigkeit ist. Wir müssen alle lernen, uns unseres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Vieles von dem, was an Gewalt, Terror und Lieblosigkeit in der Welt herrscht, hat damit zu tun, daß die Menschen unmündig sind - auf den verschiedensten Gebieten, in verschiedener Weise.
Ich will - auf unseren Text bezogen - den Satz so umformulieren: Wir alle müssen lernen, selbständig die Liebe Gottes in der Welt zu leben.
Das ist nicht einfach. Das kann keiner für sich. Das gelingt nur in der Gemeinschaft derer, die auf diesem Weg sind.
Solange wir das aber nicht selbständig erkennen und erfahren können, solange uns die Kraft fehlt, selbständig zu handeln - so lange sind wir angewiesen auf die verschiedenen Dienste unter uns. Später dann haben wir selbst Teil an diesem Dienst, den wir gemeinsam in dieser Welt tun.
„Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu. dem hin, der das Haupt ist, Christus.“ (Eph. 4, 15)
Das ist das Ziel unserer Mühen als Christen in dieser Welt - wahrhaftig sein in der Liebe und dadurch in allen Stücken auf Christus hin wachsen. Auf der Grundlage wahrhaftiger Liebe können wir wachsen - nicht als Experten auf diesem oder jenem Gebiet, so wie uns die Aufgaben zugeteilt werden, nein, "in allen Stücken", als ganze Menschen Christus näher kommen.
Das Ziel des Christenlebens ist nicht ein Zustand sondern Bewegung: Wachstum. Christsein - das heißt nicht, am Ziel sein, sondern ständig auf dem Weg, immer von neuem bedroht - wie jedes Leben auf dieser Erde - und dennoch auf sicherem Boden stehend und Christus vor uns, der nicht von dieser Welt ist, sondern das Haupt.
Wissen wir jetzt mehr?
Sie wissen, daß wir im vergangenen Jahr Pfarrer Berghaus gewählt und in sein Amt eingeführt haben. Das Presbyterium hat in diesen Tagen beschlossen, einen nebenberuflichen Kirchenmusiker einzustellen. Näheres erfahren Sie noch, teils über Abkündigungen, teils über den nächsten Gemeindebrief im Herbst.

Neben diesen beiden für diese Aufgabe ausgebildeten Kräften arbeiten seit Jahren Gemeindeglieder, die predigen, die Sakramente verwalten und die Orgel spielen, ohne dazu ausgebildet zu sein. Sie wurden für einen bestimmten Teildienst zugerüstet. Sind sie jetzt überflüssig oder sollten wir das Geld für die ausgebildeten Kräfte sparen?

Hier werden leicht die unterschiedlichen Aufgaben miteinander verwechselt. Die hauptamt-
lichen Kräfte sind eingeführt in die Geschichte und Vielfalt der Glaubenszeugnisse unserer
Kirche und im Umgang mit uns, den Gemeindegliedern. Sie haben die Schlüssel, um uns diese
reiche Vielfalt aufzuschließen und erfahren zu lassen, wie Gott sich uns gegenüber in seiner
Liebe gezeigt hat. Das gilt auch für die Reichhaltigkeit der Kirchenmusik. Die ausgebildeten
Kräfte in unserer Gemeinde helfen uns auf dem Weg, unsere ganz persönliche Unmündigkeit
zu überwinden.
Die ehrenamtlichen Kräfte, die andere Berufe erlernt haben, zeigen uns, wie wir als Laien mit den Zeugnissen des Glaubens umgehen können, ganz sicher unvollkommen, aber auf die eigene Weise geprägt von Beruf und Lebenserfahrung, von Welterkenntnis und Glaubensleben. Das sind ihre Schlüssel. Sie sind ein eigener Akzent des lebendigen Wortes unseres Gottes in dieser Welt - ein Akzent, der von der Vergangenheit geprägt, in der Gegenwart gelebt und in der Hoffnung auf die Zukunft hin verkündet wird.
Wir brauchen beide - die ausgebildeten Mitarbeiter und diejenigen, die unsere Kirche mit einer Aufgabe betraut, gerade weil sie einen anderen Beruf erlernt haben, aber für diese kirchliche Aufgabe besonders geeignet sind.

Wahrhaftig in der Liebe, so sollen wir sein. Um dieser Wahrhaftigkeit willen will ich einen Satz aufgreifen, den ich in der vergangenen Woche gehört habe "Pfarrer Szyska hat das Geld zusammengetragen und beisammengehalten. Pfarrer Berghaus gibt es aus." Das stimmt nicht. Die wichtigsten Ausgabenposten dieses Jahres waren bereits festgelegt, bevor Pfarrer Berghaus seinen Dienst antrat.
Das Presbyterium hat die Geldausgaben der, Jahre 1993 und 1994 beschlossen und die meisten davon habe ich ihm vorgeschlagen. Wenn jemand Namen sucht, dann ist das in diesem Zusammenhang Pfarrer Szyska - Böhme.

Wir können im Nachgespräch vielleicht darauf zurückkommen.
Wir finden zurück zu unserem Text. Der Schreiber des Briefes an die Christen in Ephesus weist hin auf die Vielfalt der Gaben.
Auch unsere Kirchengemeinde ist auf diese Vielfalt angewiesen - unter einfachen Gemeindegliedern oder auch jenen, die sich zu bestimmten Aufgaben bereitfinden.
Wer immer auch etwas tut - wir bleiben alle gemeinsam angewiesen auf den einen Gott der Liebe, der uns trägt und auf seinen Geist, der uns beseelt:
Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist: Christus. (Eph. 4,15)
Amen

Prediger: Böhme, Leverkusen-Manfort

Materialien
Conzelmann, Hans
"Der Brief an die Epheser" in "Die Briefe an die Golater, Epheser, Philipper, Kolosser,
Thessalonicher und Philemon"
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 15. A. 1981, S. 106-111, NTD Bd. 8
Kant, Immanuel
"Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1973)
Darmstadt, 2. A. 1968, Band. 9 der "Werke", S. 53

Donnerstag, 22. Januar 2009

"Herr, in deinem Namen gehorchen uns auch die bösen Geister"

01.05.1977

"Herr, in deinem Namen gehorchen uns auch die bösen Geister"

Vorbemerkung:
Die folgende Predigt ist - mit Veränderungen - insgesamt drei Mal an verschiedenen Predigtstätten gehalten worden:
01.05.1977 - Jubilate - Urfassung - in Leverkusen-Steinbüchel
18.06.1978 - mit Ergänzungen 1978 in Leverkusen-Manfort
04.05.1985 - Kantate - in Leverkusen-Wiesdorf mit entsprechenden Ergänzungen 1985

Die Ergänzungen von 1978 und 1985 wurden durch Streichungen in der Urfassung in etwa ausgeglichen. Ich habe dennoch auch die Ergänzungen einbezogen in diese Niederschrift, um den Zeitbezug zu dokumentieren.
Leverkusen, 04.01.2009 Helmut Böhme

Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Wir hören den Predigttext des heutigen Sonntags Jubilate aus dem Evangelium nach Lukas in der Übersetzung von Helmut Riethmüller ("Fotobibel", Stuttgart/Kevelaer, 1972, S. 225). Dort heißt es im 10. Kapitel, 17-20:

(17) Die siebzig Jünger kehrten voll Freude zurück und berichteten:
"Herr, in deinem Namen gehorchen uns auch die bösen Geister."
(18) Er sprach zu: ihnen: "Ich habe den Satan wie einen Blitz aus dem
Himmel stürzen sehen.
(19) Euch habe ich Macht gegeben auf Schlangen und Skorpione zu treten,
und Gewalt über alle Stärke des Feindes. Nichts kann euch Schaden
zufügen.
(20) Indessen freut euch nicht, weil euch die Dämonen gehorchen müssen.
Freut euch vielmehr darüber, daß eure Namen bei Gott angeschrieben
sind."
Herr, unser Gott, wir haben dein Wort gehört. Doch ist uns vieles an ihm fremd und unverständlich. Gib, daß wir in diesem Gottesdienst dein Wort besser verstehen lernen. Amen.

Wie kommt es zu dem, was uns hier berichtet wird?
Jesus zieht durch das im Norden Palästinas gelegene Land Galiläa. Er predigt, sammelt eine Gemeinde um sich und heilt Kranke. Nun kommt die Zeit, in der sich sein irdisches Schicksal vollenden soll. Deshalb wendet sich Jesus nach Süden. Er macht keinen Umweg um das Land Samarien, das die jüdischen Länder Galiläa im Norden und Judäa im Süden voneinander trennt. Die Juden sehen mit etwas Verachtung auf diesen "heidnischen" Landstrich und seine Bewohner herab. So kommt es, daß auch die Samariter den Juden nicht besonders freundlich gesonnen sind. "Die sind ja doch meistens auf der Durchreise und wollen von den Samaritern nichts wissen ", so meinen die Bewohner von Samarien. Jesus läßt sich von diese: sich von dieser gegenseitigen Einschätzung nicht beirren. Er macht sich auf und zieht mitten durch Samarien hindurch, um zum Passahfest in Jerusalem zu sein., das im Lande Judäa liegt. Während er durch das Land zieht, schickt er von der großen Zahl derer, die ihn begleiten, eine ganze Schar aus, die seine Ankunft kundtun und den Bewohnern der Landstriche ringsumher von ihm erzählen sollen. Diese Ausgesandten kommen nun zurück und berichten von ihren Erfahrungen. Eine davon beschäftigt sie ganz besonders stolz: Wann immer und wo auch immer sie von Jesus erzählten und berichteten, daß sie in seinem Auftrage kamen, dann gehorchten ihnen die bösen Geister und Dämonen.
Jesus antwortet ihnen. Er stellt fest, daß sie sich wirklich darüber freuen können. Aber er weist auch darauf hin, daß sie erst durch ihn diese Kraft bekommen haben. Doch dann erklärt er, daß es. im Grunde nicht auf das Gehorchen der bösen Geister ankommt, sondern darauf, daß sie, die Jünger, seine Abgesandten, bei Gott bekannt, bei Gott mit ihren Namen eingeschrieben sind. Auf diese Weise macht er deutlich, daß erst von daher ihre Kraft kommen kann.
Die Bibel ist voller Berichte und Erzählungen. Manche von ihnen begleiten uns von der Kindheit bis ins hohe Alter. Sie werden nicht langweilig, sondern fesseln uns immer von neuem. Das geht uns mit der Geschichte von Kain und Abel so, mit der Erzählung von David und Goliath und auch - Karfreitag liegt noch nicht weit zurück - mit dem Bericht von der Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane. Andere Textstellen sind schwer zu behalten, weil sie Gedanken wiedergeben. Wir vergessen sie leicht und haben Mühe, uns an sie zu erinnern. Schließlich gibt es auch Berichte in der Bibel, die wohl sehr anschaulich beschreiben, aber dazu Worte verwenden, die wir nicht kennen, unter denen wir uns nichts mehr vorstellen können.
Ich meine, es dürfte vielen von uns mit diesem Text so gehen: "Herr, in deinem Namen gehorchen uns auch die bösen Geister." So stellen die Jünger verwundert fest. Gibt es denn überhaupt Geister?
Diejenigen, die im Altertum die Evangelien mündlich oder schriftlich überlieferten, hatten da keine Zweifel. Für sie stand fest, daß es überirdische gibt, die das Böse in der Welt verkörpern und daß diese
das Böse in der Welt verkörpern und daß diese Wesen in der Welt auf man mancherlei Weise leibhaftig in Erscheinung treten. Auch in der Lutherzeit im Mittelalter, war diese Überzeugung in den Menschen lebendig. Von daher sollten wir versuchen, einen Zugang zu diesem Text zu finden.
Heute ist nachgewiesen, daß es keine Geister und Dämonen, keinen Satan mit Bocksgehörn und auf Pferdehufen gibt.

Und was geschieht heute? - Zwei Hinweise -
Am 30. Juni 1976 stirbt die 23-jährige Studentin der Pädagogik und Theologie, Anneliese Michel, im fränkischen Weinort Klingenberg, nahe Aschaffenburg. Seit längerer Zeit war sie leidend. Die Arzte diagnostizieren Epilepsie. Als das Leiden zunimmt, ziehen die frommen Eltern Priester hinzu. Diese stellen fest, daß Anneliese Michel vom Teufel besessen ist. Mit Genehmigung der Eltern und des Bischofs wird schließlich mit der Teufelsaustreibung begonnen. Die Teufelaustreiber berichten später, Anneliese Michel sei von mehreren Teufeln besessen gewesen. Einer habe Nero, ein anderer Judas geheißen. Man hätte den Eindruck gehabt, ein halbes Dutzend Teufel habe die junge Frau gequält. Ärzte, die nach dem Todesfall die Todesursache feststellen sollten, können nur erkennen, daß Anneliese Michel verhungert und verdurstet ist. Ein Arzt war monatelang nicht mehr zu ihr gekommen. –

Ergänzung 18.06.1978;
In den letzten Tagen lasen wir zwei verschiedene Pressenotizen: Tonbandaufnahmen der Teufelsaustreibung wurden im Schulunterricht abgespielt,
- nach der einen Meldung, um die Existenz des Teufels zu beweisen,
- nach der anderen, um die Schüler über die Spaltung unter den Katholiken in die "Progressiven" und die "Traditionalisten" zu informieren .
In beiden Fällen ist dieser Weg der falsche, um das jeweils genannte Ziel zu erreichen.
Waren das nun doch Teufel und Dämonen, böse Geister gewesen, die den armen geplagten Menschen heute noch, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts heimsuchen?

Und der zweite Hinweis:
Seit zwanzig und mehr Jahren tritt die gesamte abendländische - und in zunehmenden Maße auch die übrige - Welt für die Anerkennung, Durchsetzung und Währung der Menschenrechte ein. In Deutschland wurde die Folter, eine der unmenschlichsten Einrichtungen, die Menschen jemals erfanden und auf Menschen angewandt haben, bereits vor 240 Jahren in Preußen und wenige Jahre danach in den anderen Staaten abgeschafft, Wir haben eine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948, in der es heißt: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden (Art. 5). Zwei Jahre später beschließt der Europarat einen gleichlautenden Artikel in seiner Menschenrechtskonvention. Mit großem Abscheu blickte die übrige Welt auf die grausamen Vorgänge, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland geschahen. Im Jahre 1976 wurde ein Buch neu aufgelegt, das als erstes dokumentarisch über diese Seite des sogenannten "Dritten Reiches" berichtete (Eugen Kogon: "Der SS-Staat").

Ergänzung 08.05.1985:
Am 08.05.1985 jährt sich der Tag der bedingungslosen Kapitulation des "Großdeutschen Reiches" der Nationalsozialisten zum 40. Mal. Wir haben eine Vielzahl von Erinnerungssendungen in Hörfunk und Fernsehen, aber auch in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf dem Buchmarkt. In einem sind sich alle einig: Das damals geschah, das darf sich niemals wiederholen.
(Nachträglicher Hinweis: Richard von Weizsäcker "Der 8. Mai 1945 -40 Jahre danach", Rede vor dem deutschen Bundestag, in: Weizsäcker "Von Deutschland aus. Reden des Bundespräsidenten", München, dtv Zeitgeschichte, Band10639, 1987, S.9)
Und heute erleben wir nun eine Wiedergeburt an Terror und schlimmsten Folterungen überall auf der Welt, in Europa ebenso wie in Asien, Amerika und Afrika. Die Schrecken des finstersten Mittelalters werden verstärkt durch die Ausnutzung der neuesten Erkenntnisse von Wissenschaft und Forschung für diese grausamen Zwecke. Es wird heute und jeden Tag von neuem gefoltert und gequält - oft, um von Opfern Geständnisse zu erpressen, nicht selten aber nur, um Angst und Furcht, um Terror zu verbreiten .
Sind Menschen, die solches ersinnen, und solche, die es anwenden, nicht auch böse Geister und Teufel?
Im Jahre 1975 erschien ein Taschenbuch "Bericht über die Folter". Es ist eine Dokumentation von Folterungen, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre überall auf der Welt geschehen sind.
Wir sind nicht besser als die Menschen viele Jahrhunderte vor uns. Wir wissen allerdings, daß es keinen leibhaftigen Teufel, keinen Satan und keine Dämonen gibt. Die Erfahrungen in unserem eigenen Volk haben auch gezeigt, daß die Folterer und Peiniger ebenfalls keine böser Geister sind, sondern weithin schwache, verführte, minderbegabte und enttäuschte, vielfach auch verbrecherische Menschen.
In der bildhaften Sprache der Bibel soll uns heute gesagt werden, daß die Schwachheit und das Böse in uns überwunden werden kann, wenn wir uns entschließen, im Namen Jesu zu handeln.
Zu allen Zeiten gab es überall in der Welt Böses und Schwaches. Das wird auch in aller irdischen Zukunft so sein. Von daher erklärt sich das anscheinend Unerklärliche sowohl bei Anneliese Michel wie bei den Folterungen in unseren Tagen. Aber dies wird für den Christen, der die Botschaft Christi zu hören und zu verstehen gelernt hat, zweitrangig. Es verliert an Bedeutung.
Kein Christ ist ohne Fehler und ohne Schwächen. Kein Christ ist absolut gut. Kein Christ auch kann durch ein bestimmtes Handeln hier auf Erden erreichen, daß er seine Seele für die Ewigkeit rettet.
Ein Christ aber lebt - er vegetiert nicht. Ein Christ lebt unter dem Gesetz der Liebe. Es ist nicht ganz einfach, sich heute deutlich zu machen, was dieses Gesetz von uns fordert. Der gezielte Einsatz von Massenmedien und Werbungsträgern hat auch hier unsere Sinne und unsere Verständnisfähigkeit abgestumpft.
Aber trotz alledem ist es Gottes Auftrag an uns, Liebe zu geben - und dankbar anzunehmen. Das Wort dieses Sonntags enthält auch diesen Aufruf: Gehet hin und handelt im Namen Gottes, im Namen seines Sohnes Jesus Christus, lebet die Liebe!
Als die zurückkehrenden Boten zu Jesus kommen und ihm berichten, was ihr Tun bewirkt hat, da freut sich Jesus mit ihnen. "Freut euch darüber, daß die Kraft, die ihr gewonnen habt, das Böse in der Welt und in euch selbst so radikal und vollständig vernichtet. Ja, ich habe euch diese Kraft gegeben. - Aber denkt daran, daß diese Kraft nur deshalb mit euch ist, weil ihr das Gesetz Gottes erfüllt. Eure Namen sind bei Gott angeschrieben." das heißt soviel wie: "Ihr habt euch Gott verschrieben. Bei Gott seid ihr bekannt - bekannt als seine Boten, als Jesu Jünger. Das macht euch stark gegenüber dieser Welt - und gegenüber den Kräften dieser Erde."

Ein Mann, der sich sehr stark als ein solcher Gesandter Gottes fühlte, aber zugleich erkannte, daß er dennoch ganz der Erde zugehörte, der Theologe Dietrich Bonhoeffer, hat einmal gefragt: Wer bin ich? Er war lange Jahre in verschiedenen Gefängnissen - häufig in Einzelhaft -, ehe er 1945 von den Nationalsozialisten erschossen wurde. Fragen wir uns ob er nicht auch für uns spricht, wenn er sagt:

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig und lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

aus "Widerstand und Ergebung". Siebenstern-Taschenbuch Bd. 1. München, 1951, S. 179; Dietrich Bonhoeffer Werke,1 Band 8, Chr. Kaiser Verlag/Gütersloher Verlagshaus Gütersloh, 199B, S. 513 f


Fragen auch wir nicht manches Mal - uns selbst, andere und wohl auch Gott in dieser Weise?
Wir haben andere Anlässe so zu fragen. Wir werden wohl auch andere Erlebnisse anführen, wenn wir an unsere Schwachheit: denken. Entscheidend aber ist, daß auch wir diese Antwort geben können: "Wer ich auch bin. Du kennst mich. Dein bin ich, o Gott!"
Vielleicht sollten wir uns öfters fragen, wer wir eigentlich sind - und uns vor Augen halten, daß im Grunde nur die Antwort, die Bonhoeffer hier gibt, die entscheidende Antwort ist.
Ein Weiteres sollten wir bedenken: Jesus zog bewußt von einem jüdischen Staat in den anderen durch ein heidnisches Land hindurch. Es ging nicht um die Zeit, die ein Umweg gekostet hätte, es war vor allem eine Demonstration.

Bonhoeffer sagt dazu:

Christen und Heiden
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
Das tun sie alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
in "Widerstand und Ergebung", a a O, 1951, S. 182; a a O, 1996, S. 515 f

Das ist die Zusage, die Jesus in seiner Person uns gibt. Das ist aber auch der Hinweis, den er in unserem Text gibt, wenn er sagt, daß die Namen der Jünger bei Gott angeschrieben sind. "Er kennt uns bei Namen. Er hat uns vergeben." Das sind die festen, die großen, die unerschöpflich neuen Worte von Christi Botschaft auch heute, hier in unserer Gemeinde.
Mancher, der uns zuhört, mag sich fragen, was geht das mich an? Ich bin kein Mensch, von dem hier gesprochen wird. Es gibt viele einfache Gründe, in die Kirche zu gehen. Konfirmanden müssen häufig eine bestimmte Zahl von Gottesdienstbesuchen nachweisen, für andere ist es eine Gewohnheit, manche kommen wegen eines Pfarrers. Vielleicht ist auch ein Mensch hier, der nicht an Gott glauben kann - vielleicht sucht er? - Kann Gott auch ihn ausgesandt haben? - Ja, natürlich! Gott kann jeden von uns aussenden.
Gott hat jeden gerufen. Sie ebenso wie mich. Manchen von uns gibt er es deutlich in den Sinn und in die Hand, wie er wirken soll - mit persönlichen Gaben oder dadurch, daß die Entwicklung den Betreffenden ganz plötzlich vor eine Aufgabe stellt, an der er erkennen kann: Hier verlangt mich Gott. Anderen bleibt der Ruf Gottes rätselhaft. Sie hören ihn kaum, verstehen ihn nicht - und handeln sie? Wie sollten sie das, wenn sie seinen Ruf nicht verstehen. Wieder andere hören Gott nicht einmal mehr. Für sie ist Gott eine Hilfskonstruktion, weil der erdgebundene Mensch ein überirdisches, höheres Wesen braucht, an das er glauben kann.
Allen aber ruft Gott zu: Hört auf mich, folgt meinem Ruf, meiner Botschaft der Liebe und der Vergebung, der Gnade und der Barmherzigkeit, stellt euch unter dieses Gesetz eures Gotte! -
Das muß nicht öffentlich sein. Ja, es braucht nicht einmal mit Kirche zu tun haben. Jeder von uns dient Gott, indem er Tag für Tag die Liebe, die Vergebung und die Gnade lebt. Das wird er nie ganz im Sinne Christi tun können. Aber er kann stets von neuem beginnen und es immer wieder versuchen; denn Jesus Christus hat unsere Sünden, und das heißt auch unsere Schwachheit, unsere Bosheit und das Böse in uns, ja auch unsere Entfernung von Gott auf sich genommen. Gott hat uns vergeben. Das ist unsere Gewißheit und unsere Chance für jeden neuen Versuch. "Für Gott ist es nie zu spät."
Deshalb durften wir heute den Gottesdienst mit dem großen hymnischen Lob Gottes beginnen - dem deutschen TE DEUM LAUDAMUS - Dich, Gott loben wir" (EKG 489 "Großer Gott, wir loben dich ..."; EG 331), deshalb durften wir vor dieser Predigt so fröhlich sein und singen "Mit Freuden zart ..."(EKG 81; EG 108), aber deshalb werden wir auch das Wort Jesu wiedererkennen in unserem Schlußlied "Es kennt der Herr die Seinen ..." (EKG 526; EG 358).
Die Predigt hat heute mit einem Blick auf das Grauenvolle begonnen, das Menschen heute noch denken und tun können. Jetzt schließt sie mit einem Lob Gottes.
Das scheint ein Widerspruch zu sein. Viele Fernerstehende haben kein Verständnis dafür, daß Christen gerade im Blick auf besondere Belastungen Gott loben und voller Freude sein können. Es stößt sie ab, wenn Christen Gott danken und ihn loben können in einer Zeit, in der es ihnen selbst oder überhaupt anderen Menschen in der Welt schlecht geht.
Dieser Widerspruch besteht nur scheinbar. In Wahrheit zeigt sich hier eine große und sehr klare Konsequenz. Gerade weil uns die menschliche Schwachheit so deutlich, das Böse in der Welt so ungemein nahe ist - weil all dies uns trifft, deshalb können wir Gott loben, ja, deshalb müssen wir es sogar um seines Werkes der Liebe und der Vergebung willen.

Unser Gott, lieber Vater,
unsere Welt ist schrecklich und grausam. So hören wir und das erfahren wir auch immer wieder. Gib uns die Gnade, daß wir ebenso erfahren, wie herrlich und schön, wie lebendig und voller Freude unsere Welt ebenfalls ist. Wir brauchen diese Erfahrung, wenn wir hier bestehen und unser Leben unter dein Gesetz stellen wollen. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinnen Jesus Christus. Amen.

Lieder
- "Großer Gott, wir loben dich ..." EKG 489/EG 331
- "Mit Freuden zart ..." EKG 81/EG 108
- "Es kennt der Herr die Seinen ..." EKG 586/EG 358

Materialien

Edward Schweizer: "Das Evangelium nach Lukas"
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht,18.A. 1982, S.116-119
Reihe: Neues Testament Deutsch - NTD - Band 3 -

Montag, 19. Januar 2009

Kirche und Mauerfall - Silvesterpredigt 1989

letzter Sonntag im Kirchenjahr, erster Sonntag nach dem Christfest, Silvester, Morgengottesdienst

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.

Als Predigttext hören wir aus dem Buch des Propheten Jesaja im Kapitel 49 die Verse 13 bis 16:
(13) Jauchzet, ihr Himmel; freue dich Erde!
Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!
Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.
(14) Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen,
der Herr hat meiner vergessen.
(15) Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen,
daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.
(16) Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet;
deine Mauern sind immer vor mir.

Herr, unser Gott,
ja - wir wissen, daß du uns nicht verläßt. Wir wissen, daß du uns mit
der Geburt deines Sohnes als deine Kinder angenommen hast. - Und dennoch
erfüllt uns die Angst und Not dieser Welt: vor uns, vor den anderen und
selbst vor dir.
Hilf uns, daß wir frei werden, als deine Kinder dir in Vertrauen und
Liebe zu folgen! Amen.

Kennen Sie das? -
Da gibt es Menschen, die drückt ihr Leid und ihre Not so darnieder, daß all ihr Denken und Tun nur um dieses Leiden kreisen kann, sich nur mit der Qual ihrer Not beschäftigt. Als Außenstehende erkennen wir wohl, daß sich diese Menschen im Kreis bewegen - aber wir wissen nicht, wie wir ihnen helfen können. Oft können wir auch nicht ausschließen, daß gerade diese ständige Klageden Menschen in die Lage versetzt, sein Leben auszuhalten - so, wie es nun einmal ist.
Klagen wir nicht selbst auch ab und zu? Welche Erfahrungen haben wir mit der Klage über unser Leben gemacht?
In der Vorbereitung auf diese Predigt habe ich mühelos vier Seiten mit Klagen über mein persönliches Handeln als Presbyter, Prediger und ehemaliger Kirchmeister - aber auch mit Klagen vieler Presbyter über die eigene Unvollkommenheit und das Leben in der Gemeinde zusammengetragen.
Es würde uns gewiß helfen, wenn wir das alles einmal aussprechen würden und einander sagen könnten. Ich habe dann aber abgebrochen, weil meine Sammlung die Predigt auf ein falsches Gleis gebracht hätte.
Klagen hilft uns nicht weiter - wenigstens nicht Klagen allein! Es verstellt den Blick in die Zukunft und zwingt uns, rückwärts zu sehen. Wir verlieren die Kraft, in der Gegenwart gestaltend zu wirken und Zukunft zu ermöglichen.
Der Prophet wendet sich an das Volk Israel, das zu großen Teilen in Babylon, in der Verbannung, im Exil lebt. Er verkündet das nahe Ende der Vertreibung aus Juda und bricht in den Lobesruf aus: Jauchzt, ihr Himmel, freue dich Erde! Lobet ihr Berge mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden!
Wir hören einen Menschen, der sich nicht lassen kann vor Glück - einen Menschen, dem sich der Jubel nur so aus dem Munde drängt - ein Ausleger dieser Stelle gebraucht das Bild, der Prophet "platze vor Jubel."
Wie kommt das? Wohl seit fünfzig Jahren leben diese Juden entfernt von ihrer Heimat. Der Tempel, Mittelpunkt und Stolz ihres Glaubens und ihres Staates, ist zerstört. Fremde üben die Herrschaft aus. Das Volk weiß: Gott hat uns verlassen, er hat sich von uns abgewendet, er straft uns in seinem Zorn.
In einer solchen Lage kann der Prophet schon "platzen vor Jubel", wenn er erfährt, daß sich Gott seinem Volk wieder zuwenden und es heimführen wird.
Seine Hörer können das Neue nicht fassen. Sie setzen ihre alte Klage fort.
Ich denke, wir haben viel gemeinsam mit dem Verhalten der Juden damals in Babylon, die ihre persönliche und religiöse Not so belastete, daß
sie für anderes keinen Sinn und keine Kraft mehr aufbrachten.
Der Prophet rüttelt die Juden auf. Er verweist auf die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, die doch so stark und unwandelbar sei, daß eine Mutter ihr Kind nie im Stich läßt. Aber selbst dann, wenn sie es dennoch täte -Gott verhält sich anders. Er vergißt seine Kinder nicht, er bleibt Trost und Zuflucht seines Volkes Israel - ja, er hat dieses Volk in seine Hand gezeichnet und trägt es auf diese Weise immer sichtbar mit sich. -
Eine Woche nach Weihnachten dürfen wir den Gedanken aufnehmen. Aus dem gleichen Prophetenbuch stammen die Worte der Verheißung, die wir
Weihnachten hörten:

Der Herr wird euch selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine
Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie
nennen Immanuel ... (d.h.: Gott mit uns) Jesaja7,14
Das Volk, das im Finstern wandelt,
sieht ein großes Licht,
und über denen,
die da wohnen im finsteren Lande,
scheint es hell. Jes. 9,1
Und dann folgt - wohl an die 700 Jahre später - die Verkündigung der Geburt Jesu durch den Engel vor den Hirten bei Bethlehem:
Fürchtet euch nicht!
Siehe, ich verkündige euch
große Freude,
die allem Volke widerfahren wird;
denn euch ist heute der Heiland geboren,
welcher ist Christus, der Herr,
in der Stadt Davids.
Lk. 2, 10b,11
Nach dem Tode Jesu wird uns dann bezeugt - in der Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus sind:
... er öffnete ihnen das Verständnis, so daß sie die Schrift verstanden und sprach zu ihnen: So steht's geschrieben, daß Christus leiden wird und auferstehen an dritten Tage; und daß gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Fangt an in Jerusalem.
Lk. 24, 45 - 47
Das ist ein weiter Bogen der Gottesoffenbarungen im Zeugnis der Christen. An der Schwelle zum letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts und der zweiten tausend Jahre nach Christi Geburt sollten wir uns diese zeitliche Dimension sehr wohl vor Augen führen.
Was die Juden in Babylon alles nicht wissen konnten, das ist uns lebendig entgegen getreten. Gott ist Mensch geworden! Er hat uns angenommen so, wie wir sind: arm, schwach und schwankend in dem, was wir tun. -
Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Es ist gut, zurückzublicken - und Ausschau zu halten.
Mein Rückblick führt mich zu den Themen der beiden Tagungen unserer Kreissynode:
- Ausländerwahlrecht in den Kommunen
und Neues Gesangbuch - im Frühjahr
- Seelsorge und Diakonie - im Herbst
Die Fremden unter uns, das Fremde in uns: Wie gehen wir damit um? Können wir auf Jesu Wort vertrauen: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden"? - Joh. 16, 33b
Ich fürchte, die Angst dieser Welt schlägt in uns immer wieder durch. Die Synode hat sich dafür ausgesprochen, daß Ausländer in den Gemeinden und Landkreisen unseres Landes volles Wahlrecht erhalten.
Ich hatte es für alle Teile hilfreicher empfunden, wenn wir die Menschen verachtende, von Angst und Überheblichkeit gleichermaßen geprägte Praxis im Umgang mit Ausländern deutlich angesprochen und dagegen die Forderung gestellt hätten, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst (3. Mose 19,18; Mt. 22,39). Wir hätten dann aufzeigen müssen, wie der liebevolle Umgang miteinander im Alltag und in der Bürokratie aussieht. Aber dazu hatten wir wohl nicht die Kraft.
Die Kreissynode hat sich über ein neues Gesangbuch Gedanken gemacht *• und ich werde nie vergessen, daß ein Gemeindepfarrer mir sagte, von gut 2,000 Gemeindegliedern besäßen wohl höchstens zwölf ein eigenes Gesangbuch. Das neue Gesangbuch soll ein Haus- und Lebensbuch für den mündigen Christen im nächsten Jahrhundert sein. In ihm sollen die Glaubenszeugnisse gebündelt werden, die in zweitausendjähriger Geschichte der Verkündigung der Botschaft von der Liebe Gottes für den einzelnen Menschen Bestand gewonnen hatte und ihm Kraft geben können in Zeiten der Not und der Anfechtung: Gebete, Lieder, Psalmen, Glaubensbekenntnisse unserer Kirche und jene Erklärungen aus diesem Jahrhundert, die mit den Namen Wuppertal, Stuttgart und Darmstadt verbunden sind.
Wie ich in der Zeitung lese, wächst die Zahl der Menschen, die keine Bücher mehr lesen ("Die Bücherflut steigt, doch gleichzeitig wächst die Zahl der Nichtleser" in "Kölner Stadt-Anzeiger 304 vom 30./31.12.89 Silvesterausgabe 1989).
Es wäre schade, wenn auch unter den Christen immer weniger Menschen bereit und in der Lage wären, in die Bibel zu schauen und in einem Gesangbuch zu lesen. Als Christen sollten wir ein eigenes Verhältnis zum Worte Gottes finden und zu den Zeugnissen der Menschen, die er mit seiner Liebe erreicht hat. Die Kirche kann diese Zeugnisse nur sammeln und weitergeben. Mit Leben erfüllen müssen wir sie selbst.
Bevor wir in Manfort neue Gesangbücher bekommen, wird viel Zeit vergehen. Ich denke, es können noch zehn Jahre werden. Aber den Umgang mit dem Gesangbuch üben, das können wir schon heute - und im neuen Jahr, jeden Tag.
Seelsorge und Diakonie - vieles ist in der Erörterung organisatorischer Fragen steckengeblieben. In der Arbeitsgruppe, an der ich mich beteiligte, ging es um die Seelsorge im Krankenhaus. Mir ist in diesen Gesprächen deutlich geworden: Auch hier wird der mündige Christ verlangt der von sich aus klar und deutlich sagt: Ich möchte den Pfarrer oder die Pfarrerin sprechen. Die evangelische Krankenhausseelsorge legt Wert auf ein gründliches und ruhiges Gespräch. Sie will dort sein, wo sie wirklich gebraucht wird. Dabei gilt es ein Mißverständnis zu beseitigen, das im Erlebnis einer jungen Pfarrerin zum Ausdruck kommt. Als sie ins Krankenzimmer tritt und sich als Krankenhausseelsorgerin vorstellt, entgegnet der Patient spontan „Ist es schon so weit?“ Er befürchtet, daß er jetzt sterben muß. Der Seelsorger oder die Seelsorgerin sollte nicht nur zur letzten Stunde gerufen werden - das auch, aber mehr noch und viel wichtiger ist das Gespräch mit ihm in all den Jahren zuvor, damit unser Verhältnis zu Gott wachsen kann - an Liebe und an Intensität des Glaubens. Der Besuch des Seelsorgers kennzeichnet nicht das Ende aller Hoffnung, sondern den neuen Beginn einer, ja, der großen Hoffnung! -
Wenn Sie sich Zeit und die Ruhe zu einem Rückblick nehmen, dann wird es Ihnen wohl ähnlich gehen wie mir. Sie werden feststellen: Es ist vielerlei und recht verschiedenes in diesem Jahr geschehen und uns
begegnet.
Das Bewegendste war wohl das Ende der Zwangsherrschaft in den Staaten des Ostblocks und hier besonders in der Deutschen Demokratischen Republik, die nun auf dem Wege ist, wirklich demokratisch zu werden.
Am Freitag, 10.11.1989, hörten wir in den Fernsehnachrichten davon, daß die Mauer und der Eiserne Vorhang Löcher bekommen hatten und jeder Bürger der DDR ohne Einschränkung und bürokratische Hindernisse in das Bundesgebiet einreisen könnte. Ich versuchte, meinen Cousin in Ost-Berlin telefonisch zu erreichen - vergeblich. Da habe ich ihm, seinem Bruder in der Nähe von Meiningen und ihrer Mutter einen Brief geschrieben und sie allesamt mit allen Kindern eingeladen, uns einmal zu besuchen. Lange Zeit erhielten wir keine Nachricht. Dann kam ein Brief aus Berlin: Dank für die Einladung. Die Besuche in West-Berlin haben schon einen lebendigen Eindruck vermittelt. Jetzt wolle man erst einmal - soweit Zeit und Geld reichen - Besuche im nahegelegenen Norddeutschland machen Das Rheinland komme später dran.
Schließlich, an einem Mittwoch, 29.11.1989, gegen 22:3o Uhr klingelt es an unserer Haustür. Ein junger Mann steht davor: "Ich komme aus der DDR.“ Ich bin unsicher. Er spürt das. "Ich bin ..." und er sagt, daß er der älteste Sohn meines Cousins aus der Meininger Gegend ist (Bezirk Suhl). Wir kannten uns nur von Fotos. Als Reichsbahner hat er freie Fahrt und so entschloß er sich, drei restliche Urlaubstage am Rhein zu verbringen .
Wir benachrichtigten unsere Tochter an ihrem Studienort in Dortmund. Sie kam am Tag darauf. Es gab viel zu erzählen. Am dritten Tage trennten wir uns, als hätten wir uns schon immer gekannt. Da, er hat mit meiner Tochter bereits Pläne geschmiedet, wie er sich an ihrer Reise nach London beteiligen kann, die sie für die Semesterferien im kommenden Jahr plant.
Beide jungen Menschen sind gut halb so alt wie die beiden deutschen
Staaten und haben keine andere deutsche staatliche Realität kennen
gelernt. Gewiß, sie wußten voneinander. Beide sind sie auch bewußte
Christen - auf ihre Weise. Auch das verbindet.
Und doch bleibt es für mich ein Wunder dieser Tage, daß vierzig Jahre erzwungener Trennung die Gemeinschaft der flanschen nicht zu zerstören vermochte - und das über Generationen hinweg. Das ist meine Erfahrung allein im Jahre 1989.
Dabei könnten wir jetzt auch auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicken. Was ist nicht alles in diesen Jahren geschehen - - - !
Für mich ist dies heute genug.
Fast sechzig Jahre dauerte das babylonische Exil der Juden, denen Jesaja die Rückkehr in die Heimat und die Gnade ihres Gottes verkündete -gut zweieinhalb Jahrtausende später findet ein Volk nach vierzigjähriger gewaltsamer Trennung wieder zu friedlicher Begegnung zusammen in unbeschreiblichem Jubel und dankbarer Freude. Dieses Mal war es die Kirche, die den Hoffenden Mut machte und Asyl gewährte.
Ist dies nicht ein Anlaß zu Freude und Dankbarkeit - auch, und gerade gegenüber Gott, unserem Herrn?
Unser junger Gast schrieb uns zu Weihnachten einen Brief voller Dank und Sorge. Die neue Freiheit hat ihren Preis. Extremisten treten auf. Man befürchtet gewalttätige Ausschreitungen und das Auftreten politischer Gruppen, die zerstören und nicht aufbauen, die Haß säen und nicht Liebe.
Deshalb sind wir alle aufgerufen, mit unseren Kräften dazu beizutragen, daß Gottes Liebe wirken kann in uns: und um uns her - über die Zeiten hinweg. Wir sind schwach und fehlerhaft - gewiß. Und doch wird mir in dieser Zeit bewußt, wie sehr es notwendig ist, daß jeder von uns dafür sorgt, daß die Verbindung nicht unterbrochen wird zwischen dem Gestern und dem Morgen - wir sind das Jetzt, mit unserer Klage, aber auch mit unserem Gebet.

Jochen Klepper, der wegen seiner jüdischen Frau wahrend der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland starken Anfechtungen ausgesetzt war, hat im Jahre 1937 ein Gedicht geschrieben, das wir oft in Jahresschlußgottesdiensten singen. Wir finden es unter der Nummer 45 in unserem Gesangbuch - EKG, neu seit 1996 Nr. 64 EG-West.
Es soll das Schlußgebet meiner Predigt sein und ich bitte Sie, es still mitzulesen:

Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.

Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.

Wer ist hier, der vor dir besteht?
Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht:
Nur du allein wirst bleiben.
Nur Gottes Jahr währt für und für,
drum kehre jeden Tag zu dir,
weil wir im Winde treiben.

Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist,
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.

Und diese Gaben, Herr, allein
laß Wert und Maß der Tage sein,
die wir in Schuld verbringen.
Nach ihnen sei die Zeit gezählt;
was wir versäumt, was wir verfehlt,
darf nicht mehr vor dich dringen.

Der du allein der Ewge heißt
und Anfang Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
Bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Materialien:
Westermann,Claus "Das Buch Jesaja. Kapitel 40 - 66" Göttingen.4.A. 1981.S. 175 - 178
Voigt, Gottfried "Homiletische Auslegung der Predigttexte. Reihe VI: Die lebendigen Steine".Göttingen.2.A.1989, S. 58 - 64

Montag, 5. Januar 2009

Aufgaben und Gaben in der Gemeinde

Gottesdienst am 8.6.1992
Wir hören den Predigttext für den Pfingstmontag des Jahres 1992, und zwar die Worte des Apostels Paulus an die Korinther über die Gnadengaben im l. Kor, 12. 4-11
Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.
In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist, einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede, einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will.
Herr, unser Gott,
das klingt so gut und einleuchtend - jede Begabung kommt von dir allein und ist kein Verdienst des Menschen, jeder Dienst ist in gleicher Weise ein Dienst der Liebe. Die Welt aber, in der wir leben, sieht anders aus. Wir wissen oft nicht, mit welcher Begabung du uns beschenkt hast, manches Mal versagen wir in allem. Die Dienste der Kirche richten sich nach der Nähe zu deinem Wort - und so auch die Hierarchie. Von deiner Gnade spüren wir oft wenig!
Herr, hilf du uns in dieser Welt und in unserer Not
Amen
"Die Presbyter werden immer nachlässiger"
Das ist nicht ein gedruckter Satz - vielleicht aus einem Visitationsbericht. Das ist ein Wort, das so oder so ähnlich in der vergangenen Presbyteriumssitzung gesprochen wurde und die Erfahrung vieler Gemeindemitglieder unserer Gemeinde mit den Presbytern der letzten Amtsperiode beschreibt.
Als Beleg für diese Behauptung wird darauf hingewiesen, daß immer seltener alle Presbyter gemeinsam im Gottesdienst sind und es immer öfter vorkommt, daß überhaupt keiner im Gottesdienst ist.
Wir waren das erste Mal mit den neu gewählten Presbytern zusammen und sprachen über die Aufgaben, die zu tun sind, wie wir sie verteilen untereinander und worauf wir achten müssen. Eine junge Mutter meinte nach dieser Kritik: "Hätte ich gewußt, daß ich jeden Sonntag im Gottesdienst sein müßte, dann hätte ich mich nicht zur Wahl gestellt, denn das kann ich nicht versprechen."
Ja, mit den kirchlichen Ämtern ist das so eine Sache. Anders als bei den Christen in Korinth gibt es in der Evangelischen Kirche im Rheinland Gesetze. Eines davon ist die Kirchenordnung. Dort heißt es, daß nur Presbyter werden kann, wer sich durch gewissenhafte Erfüllung der Pflichten evangelischer Gemeindeglieder als treues Glied der Gemeinde bewährt hat (Art. 84, Abs. l KO).
Wer aber sagt, was diese Pflichten sind und wann sich der einzelne bewährt hat? In der Lebenspraxis unserer Kirche ist das nicht anders als in anderen gesellschaftlichen Gruppen - die Leute, die das Sagen haben, die den Überblick und die Einfluß haben, die wissen, wo es lang geht - in der Kirche und mit der Kirche.
In der Regel also ist es bei uns klar, was Sache ist;
Immer wieder geschieht es aber, daß ein Gemeindeglied nicht so sein will oder leben will, wie es dieser allgemeine Anspruch erwartet. Oft auch fühlt sich der einzelne von den Pflichten, die ihm auferlegt werden, überfordert und er zweifelt daran, ob er sie erfüllen kann - und wenn, wie lange seine Kraft reicht.
Auch das ist in der Kirche nicht anders als in den anderen gesellschaftlichen Gruppen - in Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden. Wir stehen überall einem Leistungsdruck gegenüber, dem wir oft nicht standhalten können, wir begegnen Erwartungen, die wir enttäuschen müssen - und wir werden selbst enttäuscht, wir werden oft allein gelassen.
In der frühchristlichen Gemeinde von Korinth scheint das anders gewesen zu sein. Noch war eine kirchliche Autorität nicht ausgeprägt, Gesetze gab es in der Kirche auch noch nicht und es scheint sogar, als hätten sich die Menschen zum Dienst gedrängt.
Da gibt es Leute, die gut reden können - lebenserfahrene Leute und Wissenschaftler. Da gibt es Heiler, die Menschen gesund machen können und Menschen, die ihren Glauben auf überzeugende Weise leben. Paulus zählt noch viele auf, von deren Fähigkeiten wir heute weniger verstehen als die Empfänger des Paulusbriefs danach.
Anscheinend hat es einen Wettbewerb unter ihnen gegeben, welche dieser Gaben und welches der Ämter nun die wichtigste, die zentrale Gabe ist, von welchem Amt sich die anderen in ihrer Bedeutung ableiten.
Und nun sagt der Apostel etwas völlig Unerwartetes.
Was immer der einzelne in der Christengemeinde tut, es ist der Geist Gottes, der dadurch tätig wird - und er tut es für alle und eben nicht, um den einen vor dem anderen auszuzeichnen, ihn herauszuheben aus der Zahl der vielen anderen. Der Wettbewerb der einzelnen fällt in sich zusammen - tut er das wirklich?
Wir wissen nicht, wie die Korinther in dieser Frage auf die Worte des Apostels reagiert haben.
Ich meine aber, der Wettbewerb der einzelnen wäre nicht überflüssig. Wenn mir viel geschenkt wurde, dann möchte ich schon, daß andere auch etwas davon haben - ich verschenke etwas, ich gebe ab - oder ich nehme jemanden an. Ich helfe - oder ich denke für jemanden anderes mit. Das kann durchaus auch ein Wettstreit sein - die von Gott geschenkten Gaben so wirkungsvoll wie möglich einzusetzen, die Anlagen, die in dem einzelnen von Gott her angelegt sind, so weit, wie es nur geht, zu entwickeln und zu entfalten.
Wenn dies nicht um unsretwillen, sondern um unserer Mitmenschen willen, nicht für das Image unserer so außerordentlich wichtigen und tüchtigen Person, sondern deshalb geschieht, damit die Liebe Gottes durch uns auch andere Menschen erreicht, dann, ja dann ist dies ein Wettbewerb zum Lobe Gottes, den der Apostel nicht verurteilt.
"Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt jedem das Seine zu, wie er will."
(1. Kor: 12.11)
Mit diesem Satz endet unsere Textstelle.
Es ist wichtig zu wissen, was immer wir tun, es kommt von Gott. Sein Geist ist es, der uns bewegt. Alles, was die Menschen tun. hat seinen einen Ursprung in dem einen Gott. Alle menschlichen Begabungen sind ein Geschenk des einen Gottes. Wir können deshalb nicht das eine gegen das andere aufrechnen. Wir können nicht eine Hierarchie aufbauen, ohne gegen Gottes Geist zu handeln.
Dann folgt das andere: Jeder von uns erhält seine eigene Gnadengabe, von Gott - das "Können und Vollbringen", wie es an anderer Stelle heißt. Ich nenne das ganz weltlich "Ja-sagen zu sich selbst, so wie man ist" oder, "sich selbst annehmen". Wenn Gott jedem Menschen seine eigene Begabung geschenkt hat, dann hat es keinen Sinn, darüber zu jammern, daß man nicht so ist wie andere. Wichtiger als der Blick auf andere, der so oft von Neid getrübt wird, ist der Blick in uns hinein. Haben wir denn unsere Begabungen wirklich erkannt und gehen wir pfleglich mit ihnen um?
Von mir muß ich sagen, daß ich das nicht immer tue. Kein Mensch ist vollkommen - aber jeder Mensch darf soviel Verstand haben, das zu wissen.
Gott teilt einem jeden das Seine zu, wie er - Gott - es will.
Niemand kann Gott vorschreiben, wem er welche Gaben und Ämter geben soll - und kein Mensch kann mit Recht die Erwartung haben, daß Gott ihm das eine oder andere schenkt. Gott gibt aus Gnade - und seine Kraft ist die Liebe.
Der Apostel Paulus sagt es im folgenden Kapitel, das mit dem bekannten Satz endet: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung. Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen (l. Kor. 13, 13).
Wenn wir also unsere Gottesgaben voll entfalten wollen, dann brauchen wir die Kraft der Liebe - der Liebe Gottes zu uns Menschen, der Liebe, die aus dieser Quelle in uns lebendig wird und die wir an andere weitergeben können. -
Das, so glaube ich, können wir nun verstehen.
Warum aber, so werden Sie jetzt fragen, ist die Kirche so, wie sie ist? Warum können wir selbst, die einzelnen Menschen nicht so ganz aus dieser Liebe leben? Die Kirche ist nicht nur eine Einrichtung Gottes, sie ist auch eine ganz irdische, eine weltliche, eine organisatorische Einrichtung der Menschen mit Machtansprüchen und dem Streben nach Einfluß auf das Geschehen in dieser Welt wie jede andere auch. Für diese Welt sind die Hierarchien auch in den christlichen Kirchen geschaffen. Für diese Welt und ihre Macht sind die Gesetze der Kirchen da.
vor Gott gilt das alles nicht!
Das sollen, das müssen wir wissen, wenn wir verantwortlich von Gott und von den Menschen reden wollen!
Vor Gott gilt, was Paulus zu Recht von den Gnadengaben und den Ämtern sagte.
Ich komme zurück auf die Frage nach den Aufgaben des Presbyters. Ob jemand als Christ verantwortungsbewußt handelt, kann man nicht an der Zahl seiner Gottesdienstbesuche messen. Sie kann höchstens ein Anzeichen dafür sein, ob er es mit Gott ernst oder weniger ernst meint.
Viel eher wäre es ein Zeichen für fehlende Eignung oder mangelnde Verantwortung, wenn ein Presbyter lieblos handelte, wenn er Menschen verachten würde oder seinen eigenen Vorteil zum Schaden anderer durchsetzt.
Wichtig scheint mir noch, daß Frage der Gaben der Christen ja alle Christen, alle Menschen gleichermaßen betrifft. Gott hat jedem Menschen seine eigenen Begabungen gegeben. Was also Kritiker der einen äußern, das müßten sie von sich selbst in erster Linie fordern. Wir kennen das Sprichwort vom Glashaus, in dem man sitzt, und von dem aus man nicht andere mit Steinen bewerfen kann, ohne das eigene Haus zu beschädigen.
Nichtsdestotrotz bleibt der Hinweis für die Betroffenen wichtig: Haben wir wirklich alles in unserer Kraft stehende getan, um nach unseren Kräften zu tun. wozu wir berufen wurden?
Am kommenden Freitag tritt die Synode des Kirchenkreises Leverkusen zu ihrer diesjährigen Tagung zusammen. Am Samstag beschäftigt sie sich mit dem Thema "Kirche gemeinsam leben".
In seinem Bericht zur Eröffnung schreibt der Superintendent u. a,
"Nicht Einzelpersonen – Präses, Superintendent, Vorsitzender des Presbyteriums – bestimmen den Weg der Kirche. Es sind die verantwortlichen Gremien von Presbyterium und Synode, die gemeinsam nach dem Weg der Kirche fragen sollen." .
Er spricht später von der steigenden Zahl von Kirchenaustritten und stellt die Frage nach den Ursachen. Eine findet er in den unterschiedlichen Erwartungen der Christen gegenüber ihrer Kirche: Die einen wollen die guten alten Zeiten wieder haben, in denen alles seine Ordnung hatte, die von Gott war. Die anderen wollen eine offene Kirche, die sich verändert und den ganz schwierigen Herausforderungen unserer Zeit - auch in der Zukunft - auf neue Weise antwortet, beweglich, aufmerksam, offen für jede Not der Menschen.
Der Superintendent meint, wir sollten uns gemeinsam mit geistlichen Themen beschäftigen.
Mir scheint das zu wenig - und seine Analyse zu vordergründig zu sein. Er fragt nach der Gestalt, der Ordnung der Kirche.
Ich bin überzeugt, die Menschen fragen nach dem Kern der Botschaft unseres Gottes, der von alter Zeit her die Menschen getragen hat und auch in Zukunft trägt.
Wir alle kennen diesen Kern - aber begegnen ihm so selten mit offenen Herzen und dankbarer Seele. Es ist die Liebe Gottes, die in uns wirkt auch mit dem, was wir an Gaben empfangen haben, und mit dem, was uns an Aufgaben im Leben zuwächst.
Wenn wir doch darauf achten würden - wenn doch unsere Kirche dafür empfänglich bliebe!
Dazu möge uns Gott verhelfen!
Amen