Dienstag, 10. Februar 2009

Jesu Tränen - die Juden und wir

04./11.08.1991 - Israel-Sonntag 10./11. So n.Tr.
Vorbemerkung
Diese Predigt wurde am 04.08. in Leverkusen-Manfort und am 11.08. in Leverkusen-Wiesdorf gehalten (Matthäus-Kirche, Markus-Kirche). Am 04.08. - Israel-Sonntag - ist allerdings nach meiner Notiz der Gottesdienst ausgefallen. Weiteren Notizen entnehme ich, daß der Gottesdienst in Manfort am 18.08. 12. So. n. Tr, nachgeholt wurde und am 25.08.1991 als Vertretung in der Johanneskirche in Langenfeld ebenfalls gehalten wurde.
Kanzelgruß
Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Schon draußen vor der Stadt empfangen ihn die Menschen und feiern ihn als König. Pharisäer in Jesu Nähe fordern ihn auf, das zu unterbinden. Jesu Antwort: "Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien." (Lk 19,40) Was Lukas anschließend berichtet, ist der heutige Predigttext im Evangelium nach Lukas - Lk 19,41 - 48:
(41) Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie
(42) und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!
Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
(43) Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen,
(44) und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir
und keinen Stein auf dem anderen lassen in dir,
weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Herr, unser Gott,
wir wissen: Jerusalem ist heute überall auf der Welt. Wir bitten, öffne
unsere Ohren und Herzen, damit wir hören und im Innern verstehen, was
du uns sagst. Amen.

Jesus weint
- über die Menschen, die nicht erkennen, was zum Frieden dient, und deshalb verloren sind,
- über die Stadt Jerusalem, in der der Friede Gottes kein Zuhause findet und deshalb zerstört wird.
Auch unter uns sind Menschen, die weinen,
- über geliebte und vertraute Menschen, die ihren Frieden nicht finden in der Welt, aber auch über die Not fremder Menschen, die verhungern, verdursten, die Opfer von Verfolgung von Gewalt und Terror
sie weinen aber auch
- über die Schöpfung Gottes, die die Menschen oft auf so grausame Weise verletzen und zerstören, ja auch über die Völker die keinen Frieden finden.
Jesus weint:
Tränen der Trauer, der Ohnmacht, der verzweifelten Liebe. Jetzt ist er uns ganz nahe. Diese Tränen sind uns vertraut. - Sie hätten ihm besser zuhören können. Sie hätten das Wichtige nicht aus dem Herzen verlieren dürfen - die Menschen in Jerusalem. Gott hatte ihnen schon durch Mose zugerufen: "Höre, Israel ..., du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft"(5. Mose 6,5). und auch "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"(3. Mose 19,18).
Aber nein - sie glauben Gott am besten zu dienen, wenn sie möglichst viele Gesetze erfüllen und reichlich opfern. Wir würden heute vielleicht sagen, den Juden war ihr Glaube zu einer Frage von Recht, Ordnung und Geschäft geworden. Das Wesentliche war vergessen, in den Hintergrund gedrängt, aus dem Bewußtsein verdrängt.
Jesus ist auf seinem Weg - auf seinen letzten Weg in die Stadt. Ob er ahnt, was ihn» hier erwartet? Jedenfalls weiß er, daß die Verantwortlichen in Kirche und Staat der Juden nichts verstanden haben. Für sie war sein Wirken anscheinend vergebens. Jetzt steht er vor der Stadt. Am Abhang des Ölbergs hält er an und sieht die Stadt vor sich. Die Ausweglosigkeit des Lebens dieser Menschen dort bewegt und erschüttert ihn. Nur an dieser Stelle spricht die Bibel davon, daß Jesus weint. Jesu. Tränen sind aber auch Zeichen prophetischer Rede. Im Orient haben Tränen zeitweise geradezu rituelle Bedeutung. Hier zeigen sie das Verhängnis an, das Jesus voraussieht, und sie bekräftigen seine Worte: Feinde werden die Stadt belagern und sie mit allen Manschen zerstören als eine Strafe Gottes.
Jerusalem, eine der ältesten Städte im Vorderen Orient, das Zentrum des staatlichen und religiösen Lebens der Juden - immer wieder von neuem entstanden aus Trümmern, die Feinde verursacht haben -, diese Stadt soll nun von Gott her zerstört werden!
Jerusalem - so sagte ich - ist heute überall . Ich nenne aus unserer Zeit einige Namen: ... Oradour in Frankreich, • Coventry in England, Hamburg und Dresden in Deutschland, Stalingrad und Tschernobyl in Rußland, Bagdad im Irak - und immer wieder: Jerusalem! Es muß nicht eine Stadt sein. Wo Menschen leben, da leben sie von der Liebe Gottes her - und immer von neuem gehen sie in die Irre.
Manche tun sich schwer mit der Sonderrolle der Juden vor Gott. Vielleicht eröffnet auch ihnen folgende Überlegung einen Zugang zur biblischen Verkündigung: Könnte es nicht sein, daß Gott an Israel zeichenhaft für alle Menschen auf dieser Welt handelt? Ist es denn völlig ausgeschlossen, daß Gott das Volk Israel deshalb auswählt, weil es ein verhältnismäßig kleines Volk war, dessen Schicksale überschaubar erlebt und erfahren werden konnten, ein Volk auch, das in der Lage war, dem einen Gott zu folgen. Wäre es so, dann, würde Jerusalem an dieser Stelle stehen für alle Städte dieser Welt - und wo, so dürfen, ja müssen wir heute fragen, haben die Verantwortlichen in Kirche und Staat überall auf der Welt nach 2000 Jahren der Verkündigung der frohen Botschaft Jesu "erkannt, was dem Frieden dient"?
Erst in den letzten Jahren erlebten wir es. Gerade glaubten wir, hofften wir der Friede sei in Sicht, Menschen gingen aufeinander zu, Grenzen könnten ihre trennende Kraft verlieren - da erhob der Krieg sein grausiges Gesicht und wir bekamen eine Vorahnung davon, wie Kriege aussehen können.
In jedem Jahr um diese Zeit begeht die Evangelische Kirche in Deutschland - EKD - den "Israel-Sonntag", an dem sie in besonderer Weise des Verhältnisses von Juden und Deutschen gedenkt. In die Reihe jener Namen von Städten gehört auch Warschau und Auschwitz. Mit Recht wird immer häufiger die Frage gestellt, ob denn nicht einmal Schluß sein müßte mit der ständigen Erinnerung an den Massenmord der Deutschen an den Juden, ja die bewußte Vernichtung eines ganzen -Volkes. Am 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu dieser Frage gesagt: ... "Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. [...] Wer [...] vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. [...] Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben. "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist. Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Richard von Weizsäcker: Der 8. Mai 1945 – 40 Jahre danach, 8.5.1985 (http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Richard-von-Weizsaecker-,12166.629421/Rede-von-Bundespraesident-Rich.htm?global.back=/Reden-und-Interviews/-%2C12166%2C0/Reden-Richard-von-Weizsaecker.htm%3Flink%3Dbpr_liste)

Die Juden haben eine lebendige Erinnerung. Wir Deutschen - aber viele andere Völker auf der Erde ebenfalls - haben eine übermächtige Tradition der Verdrängung. Das jüngste Beispiel dafür ist die Auflösung der "Deutschen Demokratischen Republik".
Es ist so, nur über die Erinnerung kann die Liebe Gottes Kraft in uns gewinnen, damit wir der Gegenwart standhalten und Zukunft gestalten können - soweit uns beides als Aufgabe in unserem Leben entgegentritt. Diese Aufgabe der Erinnerung übernimmt der Psalmdichter, wenn er Gott anruft:
Herr, gedenke an deine Gemeinde, an den Berg Zion, auf dem du wohnst, gedenke an deinen Bund.
PS. 74,2
Und diese Aufgabe der Erinnerung übernimmt jede Predigt, jeder Gottesdienst - wenn wir in der Bibel lesen, auch dann erinnern wir uns. -
Als Jesus den Tempel betritt, vertreibt er die Händler. Er erinnert an den Kern des Lebens im Glauben ganz besonders der Juden: Beten! Das Reden mit Gott und von Gott gehört zum Glauben an Gott hinzu.
Wir haben heute Lieder gesungen, die davon reden. Wir werden anschließend singend um Gottes Segen bitten.
Aus der Erfahrung des Grauens von Auschwitz ist dem jüdischen Philosophen Hans Jonas die Erkenntnis erwachsen, daß der Gott der Juden nicht ein allmächtiger Gott ist, sondern ein gefährdeter Gott mit eigenem Risiko (Hans Jonas "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", Frankfurt/Main, Suhrkamp. st 1516. 3.A.1988, S. 33,32).

Wir kennen diesen ohnmächtigen Gott. In Jesus Christus ist seine Liebe zu den Menschen in die Welt gekommen und hat die Sünde der Menschen auf sich genommen. Er endet ohnmächtig am Kreuz. - Ist das sein Ende?

Von der Auferstehung Jesu als des Messias, der die Menschen befreit zum ewigen Leben, kann der jüdische Glaube nicht reden. –

In diesen Jahren kann eine Vorstellung die ganze Ungeheuerlichkeit des Lebens, Handelns und Sterbens Jesu deutlich machen: Jesus ist auch für Saddam Hussein auferstanden!
Verstehe, wer das mag! Aber der Glaube, der aus der Liebe kommt, erfährt Gottes Wirken in jedem seiner Geschöpfe.
Jesus Christus weint –
ein ohnmächtiger Gott,
ein ohnmächtiger Mensch ? –

Herr, unser Gott,
wir haben die Worte deines Sohnes gehört und das Zeugnis von seiner Botschaft. Gib uns Kraft, damit wir leben und handeln können für deinen Frieden in uns und in der Welt. Amen.

Kanzelsegen

Lieder
Gott des Himmels und der Erden ... EKG 345/EG 445 Nimm von uns Herr, du treuer Gott ... EKG 119/eg 146 Herr, wir bitten, komm und segne uns ... EKG 647/eg 607 In die Schuld der Welt ... EKG 647,2-5/eg 607, 2-4 Anmerkung zu EKG (« Evangelisches Kirchengesangbuch) galt bis 1996 in der Evangelischen Kirche im Rheinland - EKiR -. Die Lied-Nrn ab 557 stammen aus dem Beiheft'84 "Singt und dankt", Kassel, Bärenreiter. 1984.

Materialien
Edward Schweizer "Das Evangelium nach Lukas" in der Reihe "Neues Testament Deutsch" - NTD -, Band 3, Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht 18.A. 1982, S. 197 - 201 )

Fürbittengebet
Laßt uns den Herrn anrufen
um den Frieden und um unser Heil,
laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
um das Leben und die Ausbreitung der einen allumfassenden Kirche,
daß sie das Evangelium nach Gottes Wahrheit
unter allen Völkern gewissenhaft bezeuge,
in der Einheit des Glaubens und
in der Solidarität mit den Sündern,
zu denen wir alle gehören -
laßt uns den Herrn anrufen: Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
um den Frieden in der ganzen Welt,
um Gottes Segen für unsere Arbeit,
um gute Lebensbedingungen,
um das tägliche Brot für alle
und um Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt
laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
für die Begegnung zwischen Christen und Juden,
dass Vorurteile und Mißtrauen überwunden werden
und neues Vertrauen wächst:
Laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Laßt uns den Herrn anrufen
für die Menschen im Nahen Osten,
Juden, Christen und Muslime,
daß jeder für das Recht des anderen eintritt, daß sie füreinander nach Gerechtigkeit suchen
und miteinander in Frieden leben, laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!

Zusatz/Ergänzung am 25.08.1991:
Laßt uns den Herrn anrufen
für die Menschen überall im russischen Land
und ihre Nachbarn,
daß die Bedrohung des Friedens nachhaltig beseitigt
und die freiheitlichen Kräfte nachhaltig gestärkt werden.

Laß Mut und Hoffnung weiterhin wachsen unter ihnen und die Kraft für einen
neuen Anfang des Lebens in Staat und Gesellschaft, der auch der Liebe wieder Raum gibt.
Laßt uns den Herrn anrufen:
Herr, erbarme dich!
Laßt uns den Herrn anrufen
für alle Flüchtlinge und Minderheiten in der Welt,
insbesondere für die Menschen in Jugoslawien,
daß aller Rassenhaß
und alle Menschenverachtung aufhören,
damit die Welt sehen kann,
daß Gott alle Menschen liebt,
laßt uns Gott anrufen:
Herr, erbarme dich!

In der Stille bringen wir vor Gott was uns bewegt - - -
Mit den Worten Jesu beten wir
Vater unser ...

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