Sonntag, 5. April 2009

Wirken des lebendigen Wortes

Gottesdienst am 23.2.1992 in Rheindorf und am 26.4.1992, Sonntag Quasimodogeniti, in Leverkusen-Manfort

Kanzelgruß

Wir finden den Predigttext im 4. Kapitel des Hebräerbriefes. Dort heißt es in den Versen 12 und 13:
(12) ... das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Hebr 4, 12+11

Herr,
hilf uns, das Leben durch dein Wort und in deinem Wort zu erfahren. Uns erschreckt der Gedanke, daß es uns trennen und zerteilen könnte wie ein Schwert. Wir können nicht glauben, daß du Wunden schlägst und hoffen auf die h eilen de Kraft deines Wortes. Amen.

Heute möchte ich mit einer Geschichte beginnen. Sie hat sich vor gut 100 Jahren in Rußlands feiner Gesellschaft zugetragen. Ein junger Mann verliebt sich unsterblich in eine reiche Witwe, die ihrerseits mit einem anderen verlobt ist. Sie weist seine Bewerbungen ab. Da bricht er des nachts in ihr Haus eins - und während er vor ihrem Bett steht und auf die Schlafende hinuntersieht überkommt ihn eine gewaltige Wut, und er stößt ihr einen Dolch ins Herz. Es gelingt ihm, unerkannt zu fliehen. Man verdächtigt ihren Diener, setzt ihn gefangen - und noch ehe man ihn verurteilen kann, erfaßt ihn ein Nervenfieber, innerhalb einer Woche ist er tot.
Den Mörder erfaßt bald die Reue - nicht, daß ein anderer unschuldig an seiner Stelle in Verdacht geriet und starb - auch nicht, daß er ein Menschenleben ausgelöscht hat - , nein er bereut bitterlich, daß die von ihm geliebte Frau nicht mehr lebt. In seinem Wahn glaubt er, er habe nicht anders handeln können, denn sonst hätte sie ja den anderen geheiratet. -
Schließlich stürzt er sich in die Arbeit. Er hat Erfolg. Er beginnt, das Ausmaß seines Verbrechens zu erkennen. Grauen vor sich selbst erfaßt ihn. Er versucht mit vielen Wohltaten anderen gegenüber sein Gewissen zu beruhigen. Da begegnet ihm ein junges Mädchen, das ihn zu lieben beginnt. Sie heiraten und sie bekommen Kinder. Hatte er anfangs noch gehofft, die Liebe, die unschuldige, reine Liebe der Frau könne sein Grauen verdrängen, so erkennt er bald, daß alles nur noch schlimmer wird. Denn er in die klaren und liebevollen Augen seiner Frau blickt, fragt er sich verzweifelt, was sie wohl tun werden, wenn sie erfahren, was er getan hat. So lebt er, ein würdiges Mitglied der russischen Gesellschaft, angesehen, wohlhabend - wohl etwas schwermütig, wie man meint, vierzehn Jahre. In dieser Zeit quälen ihn Träume, verfolgen ihn Gedanken an seine Tat und ihre Folgen.
Da begegnet ihm ein junger Mann, der etwas ganz Ungewöhnliches getan hat. In einem Ehrenhandel zu einem Zweikampf mit Pistolen herausgefordert, hat er dem ersten Schuß standgehalten, dann hat er seine geladene Pistole in den Wald geworfen und sich bei seinem Gegner entschuldigt.
Diesen Mann sucht er nun auf. In langen qualvollen Gesprächen mit ihm sucht er nach einem Ausweg für sein Leben. Im Verlauf eines dieser Gespräche schlägt der junge Mann die Bibel auf und bittet ihn, eine bestimmte Stelle zu lesen. Dort heißt es dann:
Schrecklich ist es,
in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen. Hebr. 10,31

Er liest und wirft das Buch fort. Er bebt am ganzen Körper.
"Ein furchtbarer Vers ist es," sagt er, "dazu ist nichts mehr zu sagen, Sie haben das Richtige gefunden." Er verabschiedet sich von seinem Gastgeber: "... Im Paradies sehen wir uns wieder. Das heißt, seit vierzehn Jahren bin ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen - ja, so kann ich von diesen vierzehn Jahren sagen. Morgen will ich diese Hände bitten, daß sie mich lassen."

Wie jedes Jahr, so versammelt sich auch in diesem Jahr die Gesellschaft der Stadt an seinem Geburtstage, um ihm zu gratulieren und mit ihm zu feiern. Dieses Mal ist es der Tag nach dem entscheidenden Gespräch.
Er tritt unter die Versammelten und eröffnet ihnen mit allem Ernst seine Bluttat. Er legt Beweise vor und bittet um eine gerechte Strafe. Niemand aber glaubt ihm. Man halt ihn für krank, für geistig verwirrt. Seinen Gesprächspartner, den jungen Rann, hält man für den Schuldigen. Kurz vor dem Tode des Mörders, der inzwischen tatsächlich krank darniederliegt, können die beiden noch ein letztes Mal miteinander reden. Der Mörder dankt dem jungen Mann für seine Hilfe und sieht darin, daß niemand in der Stadt und auch seine Familie nicht sein Geständnis angenommen hat, eine große Gnade Gottes, der seiner Familie vor allem das Andenken an einen liebevollen, gerechten und wohltätigen Ehemann und Vater erhalten habe. -
Ob es diesen Mörder wirklich gab, weiß ich nicht. Ob sich die Geschichte genauso zugetragen hat, wie ich sie erzählt habe, kann ich auch nicht sagen. Nach allem aber, was wir von den Menschen wissen und an Zeugnissen über diese Zeit kennen, hätte sich diese Geschichte so zutragen können. Der große russische Dichter Fjodor Michailowitsch Dostojewski erzählt sie in seinem Roman "Die Brüder Karamasow" im Jahre 1880 (Zürich, Manesse Bibliothek. 2. A. 1987, S.467-485).

Weshalb habe ich diese Geschichte so ausführlich erzählt? Natürlich auch deshalb, weil es ein Satz aus dem Hebräerbrief ist, der die Wende auslöst. Im Grunde aber deshalb, weil wir am Schicksal dieses Mörders das Wirken des lebendigen Wortes unseres Gottes erspüren können.
Manche sagen, das Gewissen sei dieses Wort Gottes in uns, das uns immer wieder auf den rechten Weg führe - und deshalb müßten wir immer darauf achten. Mit seinem Schuldbekenntnis hat der Mörder sein Gewissen befreit und ist dann dankbar gestorben. Mir scheint, daß auch Dostojewksi diese Geschichte so verstanden hat. Heute, so meine ich, sollten wir mehr in der Geschichte erkennen.
"das Wort Gottes ist lebendig" - das heißt, es ist kein Gerede, das da um Gottes Wort gemacht wird. Natürlich wird das Reden über Gott und von Gott immer wieder auch zu menschlich belanglosem Geplapper - wir sind eben unvollkommen in allem, was wir tun. Aber das Zeugnis vom Handeln Gottes an uns und in der Welt - das ist Leben - und kein Gerede.
Ich weiß nicht, in welcher Weise Sie hier in Rheindorf das "Jahr mit der Bibel“ begehen wollen. Für mich ist es sehr wichtig, daß die in der Bibel überlieferten Glaubenszeugnisse der Menschen über die Jahrtausende hin Lebenszeugnisse sind, Zeugnisse und Belege dafür, daß und wie Gott in dieser Welt und an den Menschen, ja auch durch die Menschen gehandelt hat. Und er tut das immer wieder von neuem - durch sein Wort.
Erinnern wir uns an Jesu Antwort auf die Frage, was das höchste Gebot sei? Er sagt, wir sollten Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte - aber zugleich unseren Nächsten wie uns selbst (Mt. 22,37-39). Nehmen wir dieses Wort als das Zentrum unseres Glaubens und die Mitte von der aus Gott in uns wirkt, dann werden wir die Abgründe dieser Welt - auch dann, wenn wir ihnen in uns selbst begegnen -, mit mehr Kraft überblicken können und jener ausweglosen Verzweiflung des Mörders in Dostojewskis Geschichte nicht anheimfallen.
Das menschliche Gewissen ist die trennende Schärfe, die -in Gottes Wort angelegt ist. - die Liebe zu Gott und zu den Menschen aber ist das Leben in uns und in der Welt. Ja, und dann verstehen wir, daß dieses Wort Seele und Geist ebenso wie Mark und Bein - das Innerste wie das Äußerste - zu trennen vermag. Gott sieht auf den Kern, auf das Zentrum, die letzte Wahrheit - er braucht keine Rücksicht zu nehmen auf die Gesellschaft, auf wirtschaftliche, politische oder sonstige Zusammenhänge.
In der vergangenen Woche (26.03.1992) erreichte uns die Nachricht, daß ein Bundestagsabgeordneter (Gerhard Riege) sich das Leben genommen habe, weil er sicher war, nicht mehr die Kraft zu haben, die er gebraucht hätte, um in den Auseinandersetzungen der kommenden Monate zu bestehen - im Bundestag, in den politischen Gremien, aber auch in den Medien und in der Bevölkerung. - Es ist oft sehr wenig zu spüren von der Liebe, durch die Gottes Wort wirkt. -
In einer ganz anderen Zeit, vor knapp fünfzig Jahren schrieb ein Mann
die letzten Sätze in sein Tagebuch:
Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt.
In dessen Anblick endet unser Leben.
(Jochen Klepper (1903 - 1942) am Donnerstag, 10.12.1942, s. in "Unter dem Schatten deiner Flügel" München, dtv.Bd.1207, 2.A.1983, S. 1133)
Der Mann, der dies schrieb, war Jochen Klepper, der christliche Dichter und Schriftsteller, der am 10. Dezember des Jahres 1942 gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und deren Tochter aus erster Ehe in den Tod ging. Er wollte sich nicht von ihr trennen, um sein Leben zu retten. Aber er hatte wohl auch nicht die Kraft, das Grauen seiner Zeit auf sich zu nehmen. Er wußte sich und die Seinen dennoch geborgen Von ihm stammt auch das Eingangslied, in dem wir gesungen haben:

... Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
daß ich mit seinem Worte
begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte
ist er mir nah und spricht.
... Er spricht wie an dem Tage,
da er die Welt erschuf.
Da schweigen Angst und Klage,
nichts gilt mehr als sein Ruf.
... Ich werde nicht zusehenden, wenn ich ihn nur vernehm. ...
Er ist mir täglich nahe ...
Er will mich früh umhüllen
mit seinem Wort und Licht ...
Sein Wort will helle strahlen,
wie dunkel auch der Tag.
EKG 542; eg 452
Hören wir auf solche Zeugnisse und nehmen wir sie hinein in unser Leben. Wenn uns das gelingt, dann werden wir erleben, daß Gott immer um uns ist und sein Wort - auch dann, wenn es scharf und schneidend ist - dem Leben zum Siege verhilft. Dann verliert das Wort das Schreckliche, das den Mörder in Dostojewskis Geschichte umtrieb.
"Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen"...
Das macht für viele den Gott der Juden und Christen so unheimlich.
Man kann ihn nicht sehen, man soll sich kein Bild machen - er aber sieht alles und weiß alles. Und dann entsteht das schlechte Gewissen
- und aus schlechtem Gewissen geschieht viel Übles in der Welt, auch Gewalt, Terror und Totschlag.

Da haben wir seit Dostojewski einiges hinzugelernt. Nicht zuletzt durch Sigmund Freuds Psychoanalyse haben wir von der seelischen Struktur des Menschen soviel erfahren, daß wir heute wissen: Gott läßt niemand allein, erst recht nicht mit einem schlechten Gewissen. Dostojewski hat in seinem Roman sehr ausführlich beschrieben, wie nahe der Mörder daran war, sich selbst umzubringen - oder aber noch weitere Menschen zu morden.
Die Liebe Gottes geht eben weit über Gut und Böse hinaus. Obwohl wir uns seit 2000 Jahren mit der Botschaft Jesu auseinandersetzen, ist es für uns noch immer und immer wieder ein Skandal, wenn wir daran denken, daß heute Jesus auch für Saddam Hussein gelitten hat, starb und auferstand.
Oft wissen wir nicht, wie nahe Gott uns ist und wie stark der Arm, der uns hält. Ihm dürfen wir vertrauen.

Paul Gerhardt, der Liederdichter, der während des Dreißigjährigen Krieges ein schweres Schicksal erlitten hat, wußte dies und schrieb:

Er hört die Seufzer deiner Seelen
und des Herzens stilles Klagen,
und was du keinem darfst erzählen,
magst du Gott gar kühnlich sagen.
Er ist nicht fern,
steht in der Mitten,
hört bald und gern
der Armen Bitten.
Gib dich zufrieden ...
EKG 295,5 eg 371,5

0 Herr,
höre du auch uns - und laß dein Wort eindringen in unser Herz, damit
es uns ganz erfüllt. Amen.

Lieder
EKG 542 Er weckt mich alle Morgen ... eg 452
EKG 190 Wohl denen, die da wandeln ... eg 295
EKG 431 Höchster Gott, wir danken dir ... eg ./.
EKG 336 All Morgen ist ganz frisch und neu ... eg 440

Materialien
- Strobel, August
"Der Brief an die Hebräer"
in Das Neue Testament Deutsch - NTD Band 9
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.12. A. 1981, S. 79 - 256;
hier: S. 118 - 120
- Biskup, Harald
"Abgewickelt in den Tod" in KÖLNER STADT-ANZEIGER 73 vom 26.03.1992
- Dostojewski, Fjodor Michailowitsch
"Die Brüder Karamasow", Zürich.Manesse Verlag, 2.A. 1987, Übertragung von Reinhold von Walter, S. 467 - 485, bes. S. 480
- Klepper, Jochen
"Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern 1932 - 1942"
herausgegeben von Hildegard Klepper, mit Genehmigung der Deutschen
Verlagsanstalt , Stuttgart (1956) erschienen im
Deutschen Taschenbuchverlag - dtv -, München. 2. A. 1983 als
Band 1207, S. 1133

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