Dienstag, 3. März 2009

Deutscher Herbst

23.10.1977 20. Sonntag nach Trinitatis

Kanzelgruß:
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Den Predigttext für den heutigen, 20. Sonntag nach Trinitatis finden wir im Evangelium nach Johannes im 6. Kapitel, in den Versen 37 bis 40 und 44. In der Übersetzung von Ulrich Wilckens heißt es:
(37) Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht zurückstoßen.
(38) Denn ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht um meinen eigenen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
(39) Darin, aber besteht der Wille dessen, der mich gesandt hat:
daß ich von all denen, die er mir gegeben hat, keinen umkommen lasse, sondern sie auferwecke am letzten Tage.
(40) Ja, das ist der Wille meines Vaters: Jeder, der den Sohn sieht
und an ihn glaubt, soll das ewige Leben haben; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tage. ...
(44) Niemand kann zu mir kommen, wenn ihn nicht der Vater, der mich gesandt hat, zu mir zieht; und ich werde ihn am letzten Tage auferwecken.

Ulrich Wilckens Übersetzung des "Neuen Testaments" Furche Verlag, Hamburg u.a. 3.A. 1971.S. 332 ff

Herr, wir vergessen leicht, woher wir kommen und wir wissen nicht, wohin wir gehen. Du aber begleitest uns auf unseren Wegen. Laß uns auch heute in diesem Gottesdienst dein Wort recht verstehen. Amen.

Zum Verständnis des Textes ist es hilfreich, an den Anfang des Evangeliums zu denken.
(1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
(2) Dieser war im Anfang bei Gott.
(3) Alles ist durch ihn entstanden, und ohne ihn entstanden ist nichts von dem, was besteht.
(4) In ihm ist das Leben, und das Leben war der Menschen Licht.
(5) Und das Licht scheint in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht angenommen.

Hier ist von Gott und von Jesus, seinem Sohn, die Rede, von dem Sohn, der in die Welt - die Finsternis - kommt. Er wird nicht angenommen. Im 6. Kapitel nun geschieht das Wunder der Speisung der 5000 Menschen - Verse 1 bis 14 -. Die "Finsternis" erkennt das "Licht", aber versteht diese Erkenntnis falsch. Man denkt daran, ihn zum König zu machen. Hier setzt nun unser Text ein. Den Übergang bildet das Wort Jesu: "Ich bin das Brot des Lebens" (V. 35)
Seit Wochen vergeht kein Tag, an dem nicht die Nachrichten in Presse und Rundfunk und Fernsehen über Gewalt, Mord, Erpressung und Terror berichten.
Was ist das für eine Welt, in der Gewalt, Mord und Terror zum täglichen Leben gehören?
Die Älteren unter uns denken vielleicht an die 20er Jahre und meinen, daß die Auseinandersetzungen der Parteien in der Weimarer Zeit gerade hier im Rheinland und im Ruhrgebiet Mord, Totschlag und Terror ebenso kannten.
Wer heute jung ist, unsere Konfirmanden etwa, der mag fragen, ob nicht der Krieg in anderen Teilen der Welt und ob der Hunger in den Entwicklungsländern nicht ebenso erschreckend sind wie diese Gewalt hier unter uns heute.
Sie haben alle recht.
Es geht hier auch nicht um die Abwägung von Übeln unserer Zeit, um eines besonders anzuklagen. Es geht hier um Fragen anderer Art, die uns in diesen Tagen vor allem beschäftigen:
- Wie kommt es, daß Mord, Gewalt und Terror mitten unter uns Raum gewinnen können?
- Was haben wir getan oder unterlassen, daß dies möglich war ?
- Was können wir dagegen tun?
- Wie geht es weiter?
- Wie kommt es, daß Mord, Gewalt und Terror mitten unter uns Raum gewinnen können?

Wer es wollte, der konnte in diesen Tagen nachlesen, welchen Lebensweg einige der bekanntesten Terroristen hatten. Das Erschütternde an vielen dieser Schicksale ist, daß sich diese Menschen von ihrer Begabung, der Herkunft und ihrer Ausbildung nicht von einem von uns unterschieden, ehe sie zu Verbrechern wurden. Es gibt sicher viele Gründe, weshalb diese Menschen schließlich zu dem wurden, als was sie starben. Sicher ist jedenfalls, daß sie nicht mehr in der Lage waren, die Konflikte unserer Zeit und die in ihrem Leben zu lösen oder auch nur zu ertragen.
Die katholischen Bischöfe Deutschlands haben in ihrer Erklärung zum Terrorismus festgestellt, allzu viele in unserer Gesellschaft verträten die Ansicht, alles auf dieser Welt sei machbar und erreichbar. Aus dem Glauben an das Machbare sei gerade bei jungen Menschen die Unzufriedenheit über vorhandene Mängel, Ungerechtigkeiten und ungelöste Probleme erwachsen. Nicht wenige unserer Mitbürger, so stellen die katholischen Bischöfe fest, wissen keine Antwort mehr auf die Frage nach dem Sinn ihres Lebens.
Präses Immer von der Evangelischen Kirche im Rheinland stellt fest:
"Wenn in einer Gesellschaft der Umgang miteinander und das Reden übereinander zunehmend verwildern, wird ein vergiftetes Klima erzeugt, das Fanatismus und Gewalttätigkeit fördert."
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland - EKD - weist in seiner Erklärung darauf hin, daß ein Verlust verbindlicher Werte und Angst vor der Zukunft auch die junge Generation verunsichert habe.
Das sind einige Erklärungen, die uns einleuchten. Mir scheint außerdem, daß diese Menschen Gottes Botschaft, seinen Auftrag an uns, nicht mehr kannten.
Doch ist es gefährlich, wenn wir uns mit der Erklärung dieser Ursachen aus der Situation persönlich heraushalten.
- Was haben wir getan - oder unterlassen -, daß diese Entwicklung möglich war?
Der Rat der EKD sagt es deutlich: Wir sind dem einseitig konfliktbetonten Verhalten in unserer Mitte nicht deutlich genug entgegengetreten und haben Gebot und Verheißung Gottes nicht klar genug verkündigt. Wenn wir diese Worte auf unser persönliches Leben beziehen, dann heißt das, daß wir nicht genügend dazu beigetragen haben, Konflikte auszutragen und die Botschaft Jesu Christi nicht deutlich genug bezeugt und verkündigt haben - das alles könnte mündlich geschehen, vor allem aber durch unser Tun. Fragen wir uns, ob wir deutlich genug haben erkennen lassen, was der Sinn, der Inhalt unseres Lebens ist, gerade auch den Menschen gegenüber, die einen Sinn in ihrem Leben suchen? Ist uns im Zeitalter der Herzverpflanzungen und der Weltraumfahrt immer deutlich geblieben, daß wir dennoch Geschöpfe und nicht Schöpfer sind?
Wissen unsere Kinder genau, daß vieles wohl möglich und wünschenswert - aber dennoch gerade für sie und für uns eben nicht geeignet ist? Fragen wir uns so - und bleiben wir aufrichtig. An manchen Punkten werden viele von uns erkennen müssen, daß sie dem Zug der Zeit gefolgt sind. Wir haben nur allzu oft beigetragen zu einer Entwicklung, die uns heute erschreckt.
Was können wir dagegen tun?
Jesus Christus hat einem Menschen, der ihn nach dem wichtigsten Gebot fragte, erklärt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit allen deinen Gedanken.
Das ist das größte und erste Gebot. Das zweite ist ihm gleich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."
Wenn wir diese Botschaft hören und zu verstehen suchen, dann tun wir Entscheidendes, um die weitere Entwicklung des Terrors zu verhindern. Doch müssen wir darüberhinaus erkennen, daß es nicht in unsere Hand gelegt ist, ob wir Gottes Gebot erfüllen. Wir brauchen dazu die Gnade Gottes. In unserem Predigttext heißt es: "Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen." Und unmittelbar zuvor sagt Jesus: "Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern; und wer an mich glaubt, nie mehr dürsten." So lebensnotwendig wie das Brot für unser körperliches Leben, so ist die Liebe und Gnade unseres Gottes für unser geistliches Leben in gleicher Weise unerläßlich.
Was heißt das nun für unser persönliches Leben hier und jetzt? Zunächst bedeutet es eine Einschränkung: Was immer wir denken und tun, es steht unter dem Vorbehalt, daß wir Gottes Geschöpfe sind und seine Gnade brauchen. Wir tun also nichts aus eigener Kraft, eigenem Können heraus, sondern wir sind uns stets bewußt, daß alles, was wir tun, durch Gottes Hilfe geschieht.
Dann aber bedeutet diese Erfahrung eine ungeheure Erleichterung: Es lastet eben nicht die ganze erschütternde Not der Welt auf unseren Schultern! Nicht wir müssen die Welt verbessern, von Grund auf ändern, Gott übernimmt das. Er wirkt durch uns auf seine Weise. Wir dürfen darauf vertrauen. Unsere Frage war, was wir gegen den Terror tun könnten. Prüfen wir uns stets von neuem, welchen Sinn unser Leben hat, und ob wir den rechten Weg gehen. Wir könnten mehr miteinander reden - auch über das, was wir aneinander nicht verstehen. Wir können einander noch mehr helfen, als wir es bereits bisher getan haben.
- Wie geht es weiter?
Für diejenigen, die in diesen Wochen besondere Verantwortung tragen und gerade die Verantwortlichen in den Krisenstäben und für die Verhandlungspartner der Terroristen, ist es wohl das Schwerste gewesen zu wissen, daß sie auf diese Frage zu keinem Zeitpunkt eine Antwort wußten. Wir wissen auch heute noch nicht, wie es weiter geht. Die letzte Woche hat uns gezeigt, daß wir Menschen ein Ende von Gewalt und Terror nicht absehen können.
In den ersten Tagen der Schulferien, in denen die Nachrichtensendungen und zeitweise das ganze Hörfunk- und Fernsehprogramm von Berichten über die Terrorszene bestimmt war, hat mich die Kinderfrage bewegt: "Vater, was sind Terroristen?" Die Frage ist zu beantworten - auch so, daß 10- und 11-jährige sie verstehen können. Aber welches Weltbild lernen unsere Kinder kennen, in welche Welt wachsen sie hinein? Das ist die bedrückende Frage nach dem: Wie geht es weiter?
Es wird sich zunächst nichts ändern, wenn nicht auch wir uns ändern. Gott hat uns gerufen. Folgen wir ihm? Wenn wir das tun, dann gilt für uns dann auch die Verheißung unseres Textes:
"Darin aber besteht der Wille dessen, der mich gesandt hat; daß ich von all denen, die er mir gegeben hat, keinen umkommen lasse, sondern sie auferwecke am letzten Tage . . . ich werde ihn am letzten Tage auferwecken."
So gehen wir nun getrost in die neue Woche hinein, besorgt um der Menschen Schicksal aber in der Gewißheit, daß Gott keinen zurückstößt, der zu ihm kommt. Wir werden immer wieder neue Wege suchen müssen, um den Weg zu Jesus Christus zu finden. Doch dürfen wir gewiß sein, daß er uns erwartet und erlöst. -
Wir bitten, Herr,
gib uns die rechte Zuversicht und führe uns den Weg zu dir. Amen.

Kanzelsegen:
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen.

Lieder:
- "Du meine Seele, singe ..." EKG 197/EG 302
- "Dir, dir, o Höchster Will ich singen ...“ EKG 237/EG 328
- „Gib dich zufrieden ..." EKG 295/EG 371
- "Gott liebt diese Welt ...« EKG 514/EG 409

Materialien:
Siegfried Schulz "Das Evangelium nach Johannes"
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 14.A. 1978, S.94 ff - NTD 4 -
Ulrich Wilckens, NTD 4, 17.A.1998, VIII, 353 S,
Ulrich Wilckens, NTD 4, 2.A. der Neubearbeitung. 2000. 361 S. ISBN 3-525-51379-8

Zur Chronik der Ereignisse
- siehe "Der Fischer Weltalmanach", S. Fischer Verlag/Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main, Jahrgang 1978, erschienen Nov. 1977, - Weltchronik, Sp. 718 - 721 und Jahrgang 1979, erschienen Nov. 1978, - Weltchronik, Sp. 731 - 733, 871
- Stefan Aust "Der Baader-Meinhof-Komplex". München Th.Knaur Nachf. 1989, 592 S. Knaur-Taschenbuch 3874 - ISBN 3-426-03874-9

7.4.1977: Generalbundesanwalt Siegfried Buback und sein Fahrer Wolfgang Göbel werden von Terroristen auf offener Straße ermordet
28.4.1977: Urteil des Stuttgarter Oberlandesgerichts im "Stammheim-Prozeß" gegen die Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Ras und Gudrun Ensslin zu lebenslangen Freiheitsstrafen
30.07.1977: Erich Ponto, Vorstandssprecher der "Dresdner Bank", von Anarchisten tödlich verletzt.
05.09.1977: Entführung des Präsidenten der "Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände" Hanns-Martin Schleyer. Die Entführer bezeichnen sich als "Rote Armee Fraktion" RAF. Bei dieser Gelegenheit kommen ums Leben die Sicherheitsbeamten Reinhold Brändler, Roland Pieler und Helmut Ulmer sowie der Fahrer Schleyers Heinz Marcisz.
13.10.1977: Entführung der Lufthansamaschine "Landshut" 18.10.1977: durch Sonderkommando GSG 9 in Mogadischu beendet
am gleichen Tage wird Hanns-Martin Schleyer von Terroristen ermordet
19.10.1977: wird die Leiche bei Mülhausen/Elsaß aufgefunden
18.10.1977: Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin begehen in der Strafvollzugsanstalt Stammheim bei Stuttgart Selbstmord.

vgl. auch DIE ZEIT: magazin 20 vom 09.Hai 1997 "Zwanzig Jahre Deutscher Herbst", Teil I: Commando Siegfried Hauser Commando Martyr Halimeh; magazin 21 v. 16.05.1997 Teil II: Mörderisches Finale*1, dokumentarische Erzählung von Heinrich Breloer

Fürbittengebet
Herr, unser Vater,
du hast uns deinen Sohn gesandt, daß er uns rufe und zu dir führe.
Du hast uns durch ihn das ewige Leben zugesagt. Wir aber handeln, als gäbe es dich nicht und tun, als hörten wir dich nicht.
Gib uns ein waches Herz, deinem Ruf zu folgen!
Wir bitten für die jungen Menschen, bewahre sie vor Irrwegen und lasse sie den Sinn ihres Lebens klar erkennen.
Stärke die Kranken und Schwachen, Gib Mut denen, die da zweifeln.
Wir bitten für die alten Menschen, sei du bei ihnen in den Stunden der Not.
Wir bitten für die Opfer von Gewalt und Terror. Gib ihnen Kraft und laß sie erkennen, daß sie geborgen sind in deiner Gnade.
Sei du bei denen, die Verantwortung für das Leben anderer tragen. Mit ihren Entscheidungen müssen sie oft Schaden zufügen, um größeren zu vermeiden. Steh du ihnen bei und gib ihnen die Zuversicht, daß du sie trägst. Gib ihnen die Kraft, den Anforderungen ihres Amtes gerecht zu werden.
Wir bitten für die Suchenden, für die Irregeleiteten und für die Verblendeten. Sei du bei ihnen in der Nacht ihres Daseins und zeige ihnen dein Licht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen