Samstag, 9. Januar 2010

Ruf des Predigers - Mitte unseres Lebens

Sonntag Reminiscere 23.02.1986

Ordination Böhme in der Johannes-Kirche in Leverkusen-Manfort durch Superintendent Herrn Dr. R. Witschke/Monheim

PREDIGT
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Als Predigttext hören wir aus dem Buch des Propheten Jesaja im 40. Kapitel die Verse 6 bis 8 in der Luther-Übersetzung, und zwar in der revidierten Fassung von 1984 (1964):
Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predige? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
Jes. 40, 6-8

Herr, unser Gott,
Du rufst uns. Nicht immer hören wir Dich. Oft antworten wir nicht, weil wir uns eine Antwort nicht zutrauen oder weil wir uns vor Dir fürchten. Du aber läßt nicht nach. Auch heute hören wir Deinen Ruf, wie ihn uns ein Zeuge vor mehr als 2500 Jahren überliefert hat. Öffne unsere Ohren und Herzen, daß wir Dich hören und Dir zu-hören. Gib uns die innere und äußere Ruhe, die wir dazu brauchen. Laß uns verstehen, was Du uns sagen willst. Amen.

Der Text aus dem Buch des Propheten Jesaja führt uns in die Zeit von etwa 500 v. Chr. Deshalb lade ich Sie ein, sich mit mir die Situation des Propheten vor Augen zu führen, die Worte unseres Textes im Zusammenhang seiner Verkündigung zu sehen und sie schließlich von heute - von der Botschaft Jesu Christi her zu durchdenken.

1. Juden in Babylon (587 - 539)
2. Die Botschaft des Propheten (Deuterojesaja, Wirkungszeit 587 - 553)
3. Jesus Christus - unter uns


1. Juden in Babylon (587 - 539)

Der Tempel in Jerusalem ist zerstört. Die Mitte des Glaubenslebens der Juden ist vernichtet. Dabei kannten die Juden nur den einen Gott, von dem sie sich nicht einmal Bilder machen durften. Ihr Tempel enthielt die Bundeslade und war das einzige
Heiligtum, das sie kannten. Umso wichtiger war dieses Heiligtum für ihr Glaubensleben. Doch nun war es zerstört.
Mehr noch: Tausende von Juden wurden hinweggeführt
Sie kamen nach Babylon, in das Exil. Es waren die wirtschaftlich, geistlich und geistig führenden Schichten des Volkes, die man auf diese Weise ihrer Heimat beraubte. Dabei hat für den Juden die Heimat auch eine wichtige religiöse Bedeutung. Sie ist ihm von Gott zugewiesen worden. In vierzigjähriger Wanderschaft hat Gott sein Volk in dieses Land geführt (2. Mos. 12, 41 - 5. Mos. 1,3; 5. Mos. 34). Und nun - wird es ihm genommen. Wir verstehen, daß die Juden dies alles als eine Strafe Gottes ansehen mußten und viele, besonders von denen, die im Exil leben mußten, waren der Auffassung, Gott habe sie verlassen. Sie seien nun nicht mehr das auserwählte Volk Gottes.
Dennoch lebten die Juden in Babylon nicht wie in einem Gefängnis. Wir dürfen annehmen, daß sie in eigenen Siedlungen lebten, Häuser bauen und Land bestellen konnten. Sie haben auch eigene Gottesdienste gehalten, waren aber dabei angewiesen
auf die reine Verkündigung des Wortes Gottes. Hier ist, so meinst man, der Ursprung der Synagogengottesdienste, wie wir sie heute noch kennen. Hier sind auch viele der Psalmen entstanden.
Es ist nicht anzunehmen, daß die Juden unter Druck gesetzt wurden, Götter der Babylonier anzubeten. Gar mancher unter ihnen aber wird sich von einem Gott abgewandt haben, von dem man sich kein Bild machen durfte und der sein Volk ganz offensichtlich verlassen hatte.
Dabei war damals die Welt voll von Göttern und Gottheiten, deren Bildnisse oft sehr prunkvoll ausgestaltet waren.
In diese allgemeine Situation hinein ertönt die Aufforderung: "Rufe!" oder wie Luther hier übersetzt: "Predige!" Unser Text sagt nicht, ob hier Gott selbst oder ein von ihm Beauftragter spricht.
Wir dürfen aber annahmen, daß es eine göttliche Stimme war. Der Auftrag verhallt nicht ungehört.
Aus der Menge des jüdischen Volkes in Babylon kommt Antwort - eine Frage: "Was soll ich rufen, was soll ich predigen?" Der Frager fährt fort und erklärt, weshalb er die Frage stellt: "Alles Fleisch ist Gras und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk."
Ein einziges Klagelied über die Vergänglichkeit irdischer Kreatur. So mag es scheinen. Es könnte aber auch eine sachliche Feststellung sein, wenn der Frage Gott antwortet und dessen Unvergänglichkeit mit der Vergänglichkeit irdischen Wirkens vergleicht. In der Antwort wird diese Feststellung aufgegriffen. "Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort Gottes bleibt ewiglich." Es geht darum, daß das ewige Wort Gottes im vergänglichen Leben hier auf Erden eine Heimat findet. Deshalb, muß es gerufen, deshalb muß es gepredigt werden.
Ob es uns gelingt, Gottes Ruf zu hören? Das Getöse in unserer Welt ist so laut, da wird der Ruf unseres Gottes allzu leicht überhört. Nicht selten aber sind auch wir selbst schwerhörig und hartherzig. Wir sind es dann, die unsere Ohren und Herzen vor dem verschließen, was Gott uns sagen will. Das wird in den Büchern des alten wie des
neuen Testaments bezeugt. Bis in unsere Tage hinein können wir diese Erfahrung machen. - Heute nun ergeht die Frage an uns: Hören wir Gottes Stimme? - Und wenn wir sie hören, wollen wir ihr folgen, wollen wir dem folgen, der uns anspricht? Öffnen wir also nicht nur die Ohren, sondern auch unsere Herzen!

2. Die Botschaft des Propheten Deuterojesaja, Wirkungszeit 587 - 539 v.Chr.
Unsere Textstelle ist die einzige, in der unser Prophet sich selbst nennt: "... und ich sprach: "Was soll ich predigen?... "
Er ist der mittlere der drei Propheten, denen man den Kernbestand des Prophetenbuches des Jesaja zuspricht: Deuterojesaja (Wirkungszeit von 587 - 5 539 v. Chr.). Ihm spricht man die Kapitel 40 bis 55 zu. Seine Botschaft, hinter der er selbst dann ganz zurücktritt, ist an wenigen weiteren Sätzen zu verdeutlichen:
"Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott ... Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott!...“ Jes. 40, 1+3
Der Prophet soll trösten. Das ist eine ungewohnte Aufforderung. Sie zeigt an, daß eine Wende bevorsteht. Gott wendet sich seinem Volk wieder zu. Anders als viele angenommen haben, hat er sein Volk nicht fallen lassen, er hat es nicht vergessen und es ist nicht verloren. Später, am Ende des Prophetenzeugnisses heißt es dann:
"... meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr ... gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Mund geht auch sein! Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkehren, sondern wird tun, was mir gefällt und ihm wird gelingen, wozu ich es sende."
Jes. 55, 8, 10 f
Hier wird nun ganz souverän klargestellt, daß Menschenwerk und Gotteswerk nicht miteinander verglichen werden können. Das Wort Gottes wirkt - auch ohne uns. Gott ist nicht auf uns angewiesen, damit sein Wort unter uns wirkt. Es erfüllt seinen Auftrag auf mancherlei Weise und verändert die Welt, in der wir leben.
Das sind eigenartige - und ich meine, auch etwas ungewohnte Worte, die der Prophet hier findet.
Trost als ein Kern göttlicher Botschaft an die Menschen - das ist heute nicht immer selbstverständlich. Gelegentlich haben manche von uns den Eindruck, daß Mahnungen, Vorwürfe und Schuldzuweisungen diesen göttlichen Auftrag überwuchern. ja, im seelsorgerlichen Gespräch geschieht wohl Trost - weit über das Maß hinaus, von dem wir wissen können. Aber in der Verkündigung des Wortes, in der Predigt da geschieht nicht selten ganz anderes. Unter Bezug auf das Wort Gottes mahnen christliche Verbände, Parteien, Kirchen und Privatleute den Raubbau der Menschen an der göttlichen Schöpfung an und verurteilen die Gewalt, die sich unter den Menschen wie eine Seuche ausbreitet. Sie analysieren die Welt, in der wir leben. Sie suchen und sie finden Ursachen und Verantwortliche - und die Welt ertönt von ihren Rufen. Das gehört zu ihrem Auftrag - der Kern, der christlichen Botschaft aber ist das nicht.
Schon der Prophet des Alten Testaments hatte den Auftrag, zu trösten. Die Analyse ist erst der Anfang. Von ihm aber kommen wir oft nicht weg. Wir bleiben stecken in dem Bemühen, die Ursachen der Übel in dieser Welt herauszufinden - aber wir finden nicht den Weg, der weiterführt. Aus der Ferne von 2500 Jahren und aus der Welt des Exils der Juden in Babylon ruft uns das Wort des Propheten: "Tröstet, tröstet mein Volk!"
Vielleicht gelingt es uns, über den Trost den Weg zu jenen Menschen zu finden, die in der Wüste ihre Isolation und Enttäuschung, in der Wüste ihrer Gottesferne jeden Zugang zum Worte Gottes verloren haben und keine Hoffung mehr auf Gott setzen können. Vielleicht gelingt es uns, in der Wüste dem Herrn einen Weg zu bahnen. Aber Trost brauchen wir alle - nicht nur jene, die am Rande der Gesellschaft oder ihrer Existenz leben. Deshalb sind wir auch alle aufgerufen, zu trösten. Aber dies Trösten ist kein menschliches Wirken aus uns heraus. Bischof Schönherr hat einmal gesagt zu dieser Stelle: "Wie tröstet Gott? Er tröstet, indem er uns Weg schafft, auf dem wir gehen können. Er tröstet, indem er uns sein Wort gibt." Dieser wirksame Trost also ist ein Trost, den nur Gott geben kann.
Er bleibt schwach, wenn wir es nicht fertigbringen, auf die Kraft des Wortes Gottes zu vertrauen. Wie zaghaft gehen wir doch oft mit Gottes Wort um! Es fällt richtig auf, wenn wir einem Menschen begegnen, von dem wir erfahren, daß er mit dem Worte Gottes lebt. Und wir Prediger? Beim besten Willen sind viele von uns immer wieder in Gefahr, das Wort unseres Gottes zuzudecken mit ihren eigenen. Haben sie dann Gottes Ruf nicht gehört? Hatten sie Angst vor Gottes Wort, war es ihnen zu unbequem? Oder ist ihre Verzweiflung so groß, daß sie nur sich selbst und ihre Angst sehen, die sie wortreich ausbreiten?
Es gibt mancherlei Ursachen für uns Menschen, das Wort Gottes zuzudecken mit unseren eigenen Äußerungen. Aber denken wir doch daran - "alles Fleisch ist Gras und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein."
Das gilt auch für diese Predigt. Meine Worte vergehen - sie sind für den Tag und für die Stunde gesagt. Aber das ewige Wort unseres Gottes bleibt
- es verläßt uns nicht, Sie nicht, mich nicht - es bleibt ewig.


3. Jesus Christus - unter uns

Unser Verhältnis zu Gott - und darum geht es, wenn er uns tröstet, wenn wir seinem Wort den Weg zu den Menschen bereiten sollen, wenn wir predigen sollen und wenn wir der Kraft seines Wortes vertrauen sollen - unser Verhältnis zu Gott und unser Handeln in der Welt wird bestimmt durch Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi. In ihm ist die Liebe Gottes zu den Menschen besiegelt und als Mensch in dieser Welt lebendig geworden: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Joh. 3,16

Der Trost, den Gott uns zuspricht, wird in Jesus Christus lebendige Wirklichkeit und reicht über den Tod hinaus: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." (Joh. 16,33 )

Wir erfahren auch den Grund für diese Zuversicht. Jesus hat ihn genannt auf die Frage nach dem Gebot das vor allem anderen zu beachten sei: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten." Mt. 22, 37-40.
Wenn die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen zum Mittelpunkt unseres Lebens wird, dann ist alles andere nachrangig. Wer von uns aber kann dieser Aufforderung vorbehaltlos und ohne Einschränkung folgen? Wir bleiben wohl alle den üblichen Kompromissen unserer Natur unterworfen.
Von dieser Mitte unseres Lebens aber - ob sie nun ausschließlich unser Leben beherrscht oder nur dazu dient, allzu große Kursabweichungen im Alltagsleben zu korrigieren - von dieser Mitte her gewinnt das Predigtwort neue Eindringlichkeit. In der historischen Situation an einen Rufer gerichtet, der das im Exil lebende Volk Gottes trösten und ihm die Rückkehr in das Land seiner Väter ankündigen soll, wird es durch das Zeugnis Jesu Christi über Zeit und Raum erhoben und richtet sich an jeden einzelnen von uns:

- Hörst du Gottes Ruf?
- Antwortest du auf Gottes Ruf?
- Bezeugst du das Wort Gottes, damit es lebendig bleibe in den Herzen der Menschen - in dir selbst und um dich her?
- Vertraust du auf die Kraft des ewigen Wortes Gottes?

Wenn wir hier antworten wollen, werden wir wohl zunächst mit den Worten des Psalmdichters Gott bitten:
Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit
und an deine Güte,
die von Ewigkeit her gewesen sind. PS. 25,6
die in der mittelalterlichen Kirche den Eingangspsalm bildeten und damit dem heutigen Sonntag den Namen gaben: "Reminiscere" , "Gedenke, Herr ...“
Vielleicht können wir dann auf die Fragen antworten: "Ja, Herr, ich höre. Die Antwort fällt mir oft schwer. Das Zeugnis ist sehr häufig schwach. Mein Vertrauen schwankt."
Das ist jetzt nicht Ihre Antwort, die ich etwa voreilig vorweg genommen habe. Das ist aber eine mögliche Antwort, die die Situation unserer Zeit berücksichtigt. Ihre Antwort müssen Sie selbst geben. Wichtig ist, daß Sie den Mut und die Kraft finden, wie der Prophet die eigene Unzulänglichkeit zu erkennen und zu benennen, dennoch aber einer Antwort nicht auszuweichen.
Das Predigtwort hat aber nicht nur Fragen an uns. Es enthält eine Zusage unseres Gottes, die uns begleitet und Kraft gibt für den heutigen Tag und für alle, die ihm folgen.
Gottes Ruf hört nicht auf. Er geht uns nach über Tausende von Jahren hinweg* Er sucht nicht einzelne; sondern jeden einzelnen von uns. Unsere Antwort ist aber notwendig, wenn unser Glaube lebendig werden soll für uns und für andere.

Herr, unser Gott, lieber himmlischer Vater, Du rufst uns. Es fällt uns schwer, Dir zu antworten. Wir erkennen aber, daß wir Dein ewiges Wort brauchen für unser Leben auf dieser Welt und für das Leben der Menschen um uns. Wir bitten Dich deshalb, gib uns offene Ohren, öffne unsere Herzen und gib uns Kraft, Mut und Zuversicht, damit wir uns Dir zuwenden, Dir antworten und deine Liebe leben - in dieser Deiner Welt. Amen.

Lied:
EKG 230, 1 + 2 Ich singe dir mit Herz und Mund


Materialien

- „Stuttgarter Erklärungsbibel“ Luthertext mit Einführung und Erklärungen Stuttgart. Deutsche Bibelgesellschaft. 2.A. 1992, S. 878f 3.A. 2007 mit Apokryphen, 2008 S.

"Neue Jerusalemer Bibel". Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Neu herausgegebene und erweiterte Ausgabe.Deutsch herausgegeben von Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel Freiburg. Herder. 12. A. 1985. 2001. S. 1077

Claus Westermann, "Das Buch Jesaja. Kapitel 40 - 66" übersetzt und erklärt Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht. 4.A.1981, S. 29 – 41

"Assoziationen" Gedanken zu biblischen Texten. Herausgegeben von Walter Jens Stuttgart. Radius. 1982. Hans von Keler, S. 14f Christian Krause, S. 15f

"Verborgene Weisheit Gottes", Predigtgedanken aus Vergangenheit und Gegenwart, ausgewählt von Hartwig Daewel, Reihe D Band 1, S. 30-43 Berlin. Evangelische Verlagsanstalt. 1.A. 1975

Dienstag, 22. September 2009

Prüfstein für den Glauben

30.12.1984 1. Sonntag nach Weihnachten

Predigttext aus dem Evangelium nach Lukas in der Einheitsübersetzung der katholischen und evangelischen Kirche:
Lk 2, 25 - 39
(25) In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm.
(26) Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe.
(27) Jetzt wurde er vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war,
(28) nahm Simeon das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten:
(29) Nun läßt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
(30) Denn meine Augen haben das Heil gesehen,
(31) das du vor allen Völkern bereitet hast,
(32) ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.
(33) Sein Vater und seine Mutter staunten über die Worte, die über Jesus gesagt wurden.
(34) Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.
(35) Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.
(36) Damals lebte auch eine Prophetin namens Hanna, eine Tochter Penuels aus dem Stamm Ascher. Sie war schon hochbetagt. Als junges Mädchen hatte sie geheiratet und sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt;
(37) nun war sie eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie hielt sich ständig im Tempel auf und diente Gott Tag und Nacht mit Fasten und Beten.
(38) In diesem Augenblick nun trat sie hinzu, pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Lieber himmlischer Vater, dein Sohn ist Mensch geworden. Wir wissen das - und dennoch wissen wir es nicht. Sei du bei uns in dieser Stunde und laß uns erfahren, was die Ankunft deines Sohnes für jeden von uns bedeutet. Amen.
Das Weihnachtsfest liegt hinter uns. Der 24., 25. und 26. Dezember 1984 - diese Tage sind vergangen. Ist auch die Botschaft vergangen, die in den Worten der Einheitsübersetzung lautet: Heute ist euch der Retter geboren ... Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade (Lk. 2, 11, 14) ?
Vergangen ist diese Botschaft nicht. Sie lebt seit fast 2.00C Jahren unter den Menschen -und auch heute lebt sie in uns allen. Wir wären sonst nicht hier. Sie hat die Welt erhalten zum heutigen Tag. Das ist meine Überzeugung. Gewiß, wir Menschen haben diese Botschaft oft mißbraucht - aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft gemacht (Walter Jens "Assoziationen", Bd.1, Stuttgart. Radius.1976, S. 7). Im Namen Jesu Christi wurde gemordet und Terror in der Welt verbreitet. Zugleich aber ist die Liebe, wie Jesus sie verkündet hat, zu einer Weltmacht geworden, die niemand mehr leugnen kann, die auch niemand mehr einfach übergehen kann - mit der jeder rechnen muß.
Unsere Geschichte von Simeon und Hanna schließt an die Weihnachtsgeschichte an. Die Botschaft der Weihnachtsgeschichte lautet in der für uns ungewohnten Fassung der Einheitsübersetzung: " ... Heute ist euch ... der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr (Lk 2,11). ... Verherrlicht ist Gott der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade (Lk 2,14)."
Wir werden nach den Wirkungen dieser Botschaft fragen.
Die für mich zentrale Stelle unseres Predigttextes ist das Zeugnis des Simeon:
Nun läßt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie dein Wort es verheißen hat, denn meine Augen haben das Heil geschaut, das du geschaffen hast, damit alle Völker es sehen: ein Licht, das die Heiden erleuchtet und eine Verherrlichung deines Volkes Israel.
Wie kommt Simeon dazu, dies von dem kleinen Jesuskind zu sagen? Der Geist hat es ihm offenbart. Das soll heißen, Gott, der Herr, hat ihm den Blick für das Wesentliche geöffnet. Mehr noch: Simeon bezeugt, was er sieht. Die Eltern des Jesuskindes staunen über diese Worte. Sie können nicht verstehen, was Simeon meint. Simeon erkennt das, und er wendet sich an Maria, an den Menschen, der dem Jesuskind am nächsten steht. Er sagt über dies Kind geheimnisvolle Worte: In Israel sollen viele durch Jesus zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden. Jesus wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Durch dieses Zeichen werden die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. -
Wir wissen, wer durch Jesus zu Fall kommen wird. Das sind jene Menschen, die ihre Kraft und Macht aus dieser Welt ziehen.
Wir wissen, wofür Jesus ein Zeichen ist: Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat (Joh. 3,16). Für diese Liebe ist Jesus ein Zeichen - ein Zeichen aus Fleisch und Blut, ein Zeichen aus Liebe, Not, Leid und strahlendem Sieg. Ich meine, Jesus ist mehr als ein Zeichen. Er ist der Beweis der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, zu den Menschen. Mit Jesu Ankunft bezeugt Gott diese Liebe. Er bestätigt sichtbar, hörbar und für alle erkennbar diese Liebe. Durch dieses von Gott gesetzte Zeichen werden die Gedanken der Menschen offenbar. An Jesus scheiden sich die Geister der Menschen. Die einen verfolgen, die anderen verehren ihn. Jesus ist der Prüfstein für den Glauben der Menschen an Gott.
Und dann der letzte, der Satz, der Maria treffen wird: "Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen". 'Jas meint Simeon damit? Will er Maria darauf vorbereiten, daß ihr Sohn Jesus sie in den letzten Jahren seines Lebens verlassen und sich anderen Menschen zuwenden wird? – Wer von uns eigene Kinder hat aufwachsen sehen und als Mutter oder Vater hat begleiten können und dann erlebte, wie sich diese Kinder von ihren Eltern lösten und ihren eigenen Lebensweg einschlugen, der könnte eine Ahnung von dem haben, was hier das Schwert bedeuten könnte, das durch die Seele der Mutter Maria gehen soll.
Jesus wird in seinen letzten Lebensjahren ein ganz anderes Leben führen als seine Eltern es sich vorstellen konnten.
Ich glaube aber, Simeon meint das andere - das Ende Jesu in Leiden und grenzenloser Verzweiflung, den Tod eines Verbrechers am Kreuz und dann die Auferstehung und die Verherrlichung des auferstandenen Christus. Das ist eine Erfahrung, die eine Mutter nur mit äußerstem Schmerz erleben kann. -
Simeon wird uns als fromm und gerecht geschildert. Er ist also jemand, der sich ganz dem Glauben an Gott zugewandt hat. Deshalb wartet er auf die Rettung Israels. Erinnern wir uns der Worte der Verheißung: "Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht ... uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seinen Schultern. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende (Jes. 9, 1,5 + 6)." "...Aber du, Bethlehem-Efrata ... aus dir wird einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll (Micha 5,1)."
Viele Zeitgenossen des Simeon warten wie er auf die Rettung Israels. Aber sie läßt auf sich warten. Simeon wartet geduldig - und ihm offenbart Gott durch den Heiligen Geist, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Auf diesen Augenblick lebt Simeon hin. Nun ist er gekommen. Niemand - auch die Eltern des Kindes nicht - kann in diesem Kind etwas Besonderes sehen. Gewiß - die Ankündigung der Geburt Jesu, die Anbetung im Stall von Bethlehem, das alles sind Zeichen des Besonderen gewesen. Die Eltern aber verstanden sie nicht.
Simeon spricht die Aufgabe Jesu in dieser Welt aus: Jesus ist das Heil Gottes für alle Völker. Gott hat dieses Heil vor allen Völkern bereitet. Für uns scheint das selbstverständlich zu sein. Aber weder zu Jesu Zeiten noch zu unseren Zeiten ist das selbstverständlich. Zu allen Zeiten gab es Randgruppen der menschlichen Gesellschaft, Arme und Schwache, Asoziale, Kranke, Farbige oder Andersgläubige, politische Gegner oder auch politische Rivalen aus dem eigenen Lager - die von Christen, die im Besitz der weltlichen Macht sind, so behandelt werden, als sei Jesus Christus nur zu den Mächtigen dieser Welt gekommen und habe nur sie von ihren Sünden erlöst. Dabei sollen alle Völker - und das heißt zugleich: alle Menschen - das Heil sehen, das in Christus auf die Welt gekommen ist.
Zugleich soll Christus das Licht sein, das die Heiden erleuchtet. Den Gottfernen wird Gott nahe gebracht. Sie werden durch das Licht, das mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist, auf den Weg zu Gott geleitet.
Nach Simeon tritt nun Hanna herzu und auch sie, die Greisin, bezeugt die Sendung Jesu.
Diese Zeugnisse sollten für uns wichtig sein. Sie zeigen uns nämlich, daß Jesus von seiner Geburt an von Glaubenszeugen als Gottes Sohn erkannt worden ist. Das Kind wird zum Heil der Welt.
Können wir daran noch glauben, nahezu 2.000 Jahre nach Christi Geburt und angesichts der Gefahren, mit denen wir Menschen Gottes Natur zu zerstören drohen - durch Verschwendung und Zerstörung der Natur um uns herum, durch Massenvernichtungsmittel bisher nie gekannten Ausmaßes? Verliert nicht gerade das Leben der jungen Menschen unter uns vor diesem Hintergrund Ziel und Richtung? Verlieren nicht wir alle die Hoffnung auf eine bessere Welt?
Dies Bild ist nur die eine Seite unseres Lebens - und es ist die Seite, mit der wir der Unvollkommenheit dieser Welt angehören. Ist es nicht so, daß auch wir unsere Umwelt zerstören, daß auch wir Christen Aggressionen gegenüber unseren Mitmenschen haben?
Es gibt auch die andere Seite: Liebe, Mitleid, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Demut, Dankbarkeit - und glaubensstarke Zuversicht, daß wir trotz allem in Gottes Hand sicher leben können. Vielleicht ist diese Sicherheit eine andere, als wir sie uns vorstellen. Aber Gott ist eben doch ganz nahe bei uns. Er ist zu Weihnachten ein Mensch geworden wie wir - und er hat uns erlöst von der Verlorenheit an die Welt, in der wir leben. Durch ihn haben wir die Gewißheit: Wir sind Gottes K inder.
Ob wir jetzt mit Simeon sagen können, daß wir in Frieden scheiden können? Ich weiß nicht, ob es möglich ist. Wir sind nicht Simeon und wir sehen Gott und die Welt anders als er.
Aber eines kann uns das Zeugnis des Simeon zeigen: Mit Jesus Christus ist das Heil in die Welt gekommen. Wir können lernen, es zu sehen und zu erkennen.
Versuchen wir, mit den Augen des Simeon in Jesus Christus das Heil dieser Welt zu erkennen! Versuchen wir, unser Leben aus dieser Erkenntnis heraus zu führen! Die Welt, in der wir leben ist nicht verflucht und verdammt. Wir sind nicht verlassen und unseren eigenen Zerstörungskräften nicht hoffnungslos ausgeliefert.
Daß wir hier sind - das allein ist schon ein Zeichen der Hoffnung. Daß in Köln so viele Menschen unter dem Zeichen des Kreuzes zueinander finden - über alle nationalen Grenzen hinweg -, das ist ein Zeichen der Hoffnung.
Lassen Sie uns alle dazu beitragen, aus vielen Zeichen und Stationen der Hoffnung, der Liebe und des Friedens den Weg des Heils in Jesus Christus aufscheinen zu lassen. Möge uns Gott, der Herr, dazu verhelfen!
Lieber himmlischer Vater,
dein Wort hat uns nachdenklich gemacht. Es ist gut, daß wir dein Wort hören können und daß es Zeugen wie Simeon gibt. Wir danken dir. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Materialien:
Text: "Die Bibel" - Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. HERDER. Freiburg. Basel. Wien. 1980
Kommentar: Schweizer, Eduard "Das Evangelium nach Lukas" Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.1962, S.36-40 - NTD Bd. 3
Predigthilfen:Voigt, Gottfried "Der schmale Weg. Homiletische Auslegung der
Predigttexte. Neue Folge: Reihe I" Göttingen.1978.S.59-65
Rendtorff, Rolf in "Assoziationen", Bd. 1, herausgegeben von Walter Jens Stuttgart. 1978. S. 27 - 28
Sonstiges: Brico, Rex "Taize. Frère Roger und die Gemeinschaft". Freiburg.1979. 240 S.

Anmerkung:
Am 30.12.84 nahmen Gäste aus Ludwigshafen und Spanien am Gottesdienst teil, die bei Gemeindegliedern und im Gemeindesaal übernachteten. Sie nahmen am "Taize-Treffen" vom 28.12. bis 01.01. in Köln teil.